Mit dem Smartphone einen Kaffee bestellen oder sich per Chat unterhalten – Mobile Telefone sind für gehörlose und schwerhörige Menschen unverzichtbar geworden. Wille Felix Zante mit einem Überblick über brauchbare Apps.
Seit der Entwicklung von SMS waren Handys für schwerhörige oder gehörlose Menschen ein Türöffner in Sachen Inklusion. Plötzlich war Kommunikation mit dem Telefon überhaupt erst möglich. Als Smartphones populär wurden, aber SMS noch Geld kosteten, waren Emails unterwegs und später WhatsApp eine Revolution: Nahezu kostenlose Kommunikation, wie Hörende sie schon seit Ewigkeiten praktizierten. Neben diesen offensichtlichen Anwendungen gibt es auch einige Apps, die sich speziell an hörbehinderte Menschen richten: Um Lautsprache zu übersetzen, Telefonieren möglich zu machen oder einfach für den Kinobesuch Untertitel zur Verfügung zu stellen.
Telefon und Gespräche
Was wäre, wenn das Handy Lautsprache übersetzen könnte? Eigentlich logisch – eine Spracherkennung ist in den meisten Geräten schon standardmäßig installiert, also legt man das Handy auf den Tisch und lässt sich übersetzen, was gesagt wird. Ava (iOS und Android) setzt genau hier an. Mit dem Clou, dass bei Gesprächen mit mehreren Teilnehmern jeder sein eigenes Handy als Mikrofon benutzen kann und die Sprache zugeordnet wird. In der Theorie heißt das: Das Gespräch wird wie ein Chatverlauf angezeigt, mit den jeweiligen Namen der Gesprächspartner. Fünf Stunden Gruppennutzung im Monat sind gratis, Eins-zu-Eins-Gespräche unbegrenzt, genug für die gelegentliche Familienfeier. Weihnachten wird’s vielleicht knapp, aber da jeder Nutzer kostenlos fünf Stunden Gastgeber einer Konversation sein kann, muss nur das Gastgeberhandy gewechselt werden. Problematischer: Jede Person muss die App installiert haben, also ein Smartphone besitzen. Dazu kommt ein hoher Daten- und Stromverbrauch, sodass WLAN fast schon Pflicht ist.
Doch wenn alle Bedingungen gegeben sind, funktioniert die App überraschend gut. Das ideale Umfeld ist wahrscheinlich eher eine Bürokonferenz als eine Familienfeier — wo eine Mehrfachsteckdose auf dem Tisch weniger auffällt als zwischen Rouladen und Klößen. Vielleicht bringt Ikea in fünf Jahren einen Esstisch mit USB-Ports oder kabellosen Ladestationen an jedem Platz raus, aber selbst dann: Der Blick auf das Handy durchtrennt den persönlichen Kontakt. Das ist gewöhnungsbedürftig, aber vielleicht gut, um einzelne missverstandene Wörter nachzugucken. Blöd nur, wenn Ava selbst missversteht. „Hast du das gesagt, oder hat das Handy sich das ausgedacht?“ wird schnell eine Dauerfrage. Cool: Wer kurz weg ist, kann den vergangenen Gesprächsverlauf nachverfolgen. Die Protokolle können übrigens gespeichert werden, und die Einladung neuer Gesprächspartner geht ganz einfach per QR-Code.
Ähnlich wie Ava, nur fürs Telefonieren, funktioniert Pedius. Momentan ist die App noch nicht im deutschen AppStore (und auch nur für iOS) erhältlich, aber z.B. über einen US-Account kostenlos ladbar. Mit Pedius kann man jede beliebige Nummer anrufen und entweder selber sprechen oder schreiben. Das Geschriebene wird dann von einer Computerstimme weitergegeben. Einen Haken hat die Sache: Die angezeigte Nummer bei der hörenden Person am anderen Ende ist nicht meine, und dazu noch eine Auslandsnummer. Ebenso unausgegoren ist die Tatsache, dass am anderen Ende durchgehend akustisch angekündigt wird, dass ich was tippe, während ich schreibe. 20 Minuten im Monat sind gratis, 100 für ein Jahr nutzbare Minuten kosten 5 Euro, unbegrenzt kann man für 30 Euro im Jahr telefonieren. Auf jeden Fall günstiger als Tess (iOS, Android, Windows, macOS).
Unterschiedliche Kosten für Privates und Berufliches
Im Unterschied zu Pedius bietet der alteingesessene Dienst Tess menschliche Übersetzer in Schrift- und Gebärdensprache. Der Einsatzbereich ist ähnlich: Telefonate werden übersetzt, aber zu Minutenpreisen. Zusätzlich ist eine Grundgebühr fällig, im privaten Bereich 5 Euro im Monat, plus pro Minute 28 Cent für Gebärdensprach-Telefonate, 14 Cent für Schrift-Telefonate. (Zur Erinnerung: Für 5 Euro bekommt man bei Pedius bereits 100 Minuten, zwar vom Computer verschriftlicht, aber vergleichsweise billig.) 100 Minuten bei Tess würden inklusive Grundgebühr schon 19 Euro kosten – vorausgesetzt, die Telefonate sind privat. Im beruflichen Kontext werden 110 Euro Grundgebühr für Schriftsprache fällig oder 330 Euro für Gebärdensprache – monatlich. Pro Minute kommen dann noch einmal 75 Cent (Schrift) oder 1,50 Euro (Gebärden) oben drauf.
Werde ich als Gehörloser angerufen, zahle ich das auch — und der hörende Anrufer 14 Cent pro Minute. In Zeiten von kostenlosen 0800er-Nummern ist das ein kolossaler Wettbewerbsnachteil. Zum Vergleich: In den USA werden diese Kosten komplett von den Telekommunikationsanbietern getragen, die von allen Telefonanschlüssen eine kleine Gebühr im Cent-Bereich für Barrierefreiheit verlangen. Es gibt konkurrierende Anbieter, welche die Kunden mit Werbegeschenken überhäufen. In Deutschland gibt es de facto nur Tess und Telesign. Die Tess-App erinnert vom Design her stark an vergangene Windows 95-Zeiten, aber vielleicht ist das nur die rosarot verpixelte Brille. Dann doch lieber Pedius. Oder die Pizza und das Taxi gleich per eigener App bestellen.

Alternativen für Papier und Stift
Ich kann zwar meine Stimme benutzen, um im Café etwas zu bestellen, aber verstehe umgekehrt die Bedienung meist nur schlecht. Und dann kommt hinzu, dass viele Hörende automatisch davon ausgehen, dass ich hören könne, weil ich ja auch spreche…Daher ist es manchmal hilfreicher, gleich von Anfang an schriftlich zu kommunizieren. Papier und Stift habe ich nicht immer dabei, das Handy schon. Gut, wenn dann eine App installiert ist, die Schrift automatisch groß anzeigt, wie Cardzilla (nur iOS) . Kostet so viel wie ein Filterkaffee, aber macht sich bezahlt im Komfort. Es lassen sich Favoriten speichern (so dass nicht jedes Mal „Einen Kaffee, bitte“ neu getippt werden muss) und schnell der gesamte Bildschirm löschen. Daneben gibt es noch Make it Big – zusätzlich mit Blinkfunktion und kostenlos. Beide Apps können auch über die Siri-Spracheingabe gefüttert werden, so dass das Gegenüber auch gern sprechen kann.
Android-Nutzer können sich Embiggen herunterladen – und plattformübergreifend ist Google Translate eine gute Lösung. Der Text wird grundsätzlich recht groß angezeigt. Bei allen Apps funktioniert die Spracherkennung ziemlich gut, Internetverbindung vorausgesetzt. Geheimtipp nicht nur für Gehörlose, sondern auch Hörende, ist das Bilderwörterbuch Point it, das es auch als (lange nicht mehr aktualisierte) App (iOS, Android) gibt. Es handelt sich dabei um nach Themen sortierte Bilder, auf die gezeigt werden kann. Hilfreich ist das auch für Analphabeten oder für Wörter, auf die man so schnell nicht kommt, die aber schon auf der Zunge liegen.
Untertitel auf dem Smartphone
In Sachen Untertitel ist STARKS vom Berliner Startup Greta & Starks in aller Munde. Auf dem Papier eine reizende Idee: Wird ein Film mal wieder nicht mit Untertiteln gezeigt, nimmt man einfach im Kinosaal das Handy raus und lässt sich die (vorher heruntergeladenen Untertitel) auf dem Display anzeigen. Synchronisiert wird das Ganze über das Mikrofon. Untertitelte Filme gibt es leider viel zu selten, selbst in Städten wie Berlin ist das Angebot mau. Allerdings ist es im Kino auch nervig, zwischen dem Handy-Display (nah) und der Leinwand (fern) hin und her zu gucken. Beides gleichzeitig sehen ist ein Ding der Unmöglichkeit – und außerdem wird erwartet, dass der Zuschauer das Handy mit der Hand vor sich hochhält. Manche Kinos bieten zwar inzwischen Tische für ein Wohnzimmerflair, so dass sich das Handy theoretisch abstellen lässt, aber die meisten Locations sind immer noch von Sitzreihen geprägt.
Die Firma arbeitet übrigens an einer Datenbrille, die ähnlich wie Google Glass funktioniert. Ich konnte bei einem öffentlichen Test den Prototypen ausprobieren und kann nur sagen, ja, es ist ein Prototyp, also noch nicht ganz ausgereift, ich bin sehr skeptisch. Jedes Kino müsste mit mehreren Brillen ausgestattet sein, wenn man in Gruppen ins Kino gehen will — aber schlauerweise wird es die Brillen auch zu kaufen geben, für schlappe 350 Euro. Da kann man sich dann übrigens auch Textnachrichten während des Films anzeigen lassen, wenn man möchte. Warum das ein Feature sein soll, habe ich auch nicht ganz kapiert. Aber vielleicht ist gemeint, dass man die Brille auch im Alltag nutzt, wie eben Google Glass. Vermutlich wird es die Brille nur ohne Kamera zu kaufen geben, weil die Filmfirmen Angst vor Piraterie haben. Anspruchsvollen Einsatzmöglichkeiten wie Augmented Reality ist also gleich ein Riegel vorgeschoben. Im Endeffekt ist das Gerät also doch nur für Untertitel zu gebrauchen. Auf SMS und Benachrichtigungen im Blickfeld kann ich verzichten.
Meine ganz persönliche Sorge ist, dass nach dem Motto „Aber es gibt ja diese App!“ immer weniger Kinos untertitelte Fassungen von Filmen anzeigen. Für Gerhard Protschka, Chef des inklusiven Filmfestivals Look & Roll, sind Untertitel in Form einer App „absolut sinnlos“. Würden sie funktionieren, hätten schon längst alle Festivals das auch für hörende Nutzer umgesetzt, etwa um Originalfassungen zu untertiteln. Selbst mit der Brille, so der Schweizer, würde man auf Dauer einen steifen Nacken bekommen. Umgekehrt gibt es aber auch Schwerhörige, die froh sind, überhaupt ins Kino gehen zu können, weil es in ihrer Gegend fast nur Arthouse-Filme mit Untertiteln gibt. „ Auch wenn es ein paar Kritikpunkte gibt, so ist es dennoch extrem positiv, dass es die App gibt“, so Nutzer Lars Fernhomberg aus Paderborn. „Ich war Mitte des Jahres auch in einem Film ohne STARKS-Unterstützung und da habe ich erst einmal gemerkt, wie stark ich davon profitiere.“ In dem Sinne: gut, dass es sie gibt, aber gefährlich, wenn sie alternativlos wird.

Netflix, Tagesschau, Wetter-App
Unterm Strich sind Apps ein schwieriges Thema. Die einzige App, die ich in meinem Alltag im Einsatz habe, um Behinderungen zu reduzieren, ist Cardzilla. Tess habe ich nur wegen des kostenlos möglichen Notrufs installiert, aber mir graut vor dem Tag, an dem ich in einem deutschen Mobilfunknetz tatsächlich mal auf einen Notruf angewiesen bin. Falls die App dann nicht erstmal geupdatet werden muss oder ich gar vergessen haben sollte, mein Passwort zu speichern.
Paradoxerweise sind es Apps, die nicht für Hörbehinderte gedacht sind, die mir am meisten das Gefühl geben, teilhaben zu können: Die WarnWetter-App informiert mich per Push-Benachrichtigung zu Unwettern in meiner Region, die Tagesschau-App hält mich über aktuelle Ereignisse per Schlagzeile in der Push-Nachricht auf dem Laufenden, beide ersetzen mir gefühlt das Radiohören.
Genauso kann ich bei Netflix die meisten Sendungen einfach gucken, weil fast alles untertitelt ist. Pizza oder Sushi bestelle ich nicht über Pedius oder Tess, sondern über eine Liefer-App. Das sind alles selbstverständlich — oder eher aus Versehen — barrierefreie Apps. Das ist schön, weil es eine Standardfunktion ist, für die ich keine Extra-App installieren muss. So wünsche ich mir Kinos, die einfach für alle Untertitel haben, ohne dass ich mir Sorgen um den Ladestand meines Handys oder meiner Brille machen muss. Und eine Möglichkeit, einfach über SMS einen Notruf abzusetzen, ohne ein Konto bei einem dritten Anbieter zu besitzen. Ich kann mir vorstellen, dass es mit Augmented Reality-Brillen einige sehr interessante Lösungen für hörbehinderte Menschen geben kann, aber erstens ist das noch Zukunftsmusik und zweitens bin ich mir sicher, dass diese Anwendungen ein Nischenprodukt bleiben werden.
Zu guter Letzt ist noch zu sagen, dass für viele gehörlose Leute Gebärdensprache die bevorzugte Kommunikationsform ist — und es auf diesem Gebiet keine App gibt und auf lange Zeit auch keine geben wird, die Gebärdensprache zuverlässig übersetzt. Die besten Apps sind somit solche, die Hörende benutzen, etwa das Kestner-Wörterbuch der Gebärdensprache (iOS, Android) oder SpreadTheSign (iOS, Android) — und dann zügig einen Gebärdensprachkurs aufsuchen. There’s no app for that.