Barrierefreie Kommunikation ist in akuten Krankheitsfällen unabdingbar und oft überlebenswichtig. Für gehörlose und schwerhörige Patient*innen gestaltet sich diese Kommunikation jedoch schwierig, wenn medizinisches Fachpersonal die Gebärdensprache nicht beherrscht oder kein*e Gebärdensprachdolmetscher*in zur Verfügung steht. Wie Inklusion im medizinischen Bereich funktionieren kann, und dass sich Inklusion und wirtschaftliches Denken nicht ausschließen, beschreibt Karin Chladek am Beispiel der Wiener Marien Apotheke. Der Artikel ist der zweite Teil unserer Reihe „Beieinander Gehör finden

„Es hat mit einer b´soffenen G´schicht 2007 begonnen“, erzählt Karin Simonitsch. Die Geschäftsführerin und Inhaberin der traditionsreichen Marien Apotheke im 6. Wiener Gemeindebezirk schildert, wie es dazu gekommen ist, dass sie heute mehrere gehörlose Mitarbeiter*innen beschäftigt. Darunter auch Sreco Dolanc aus Slowenien, den ersten gehörlosen Apotheker Europas.

Was war die „b´soffenen G´schicht“? „Ein Bekannter meines Mannes hat mich gefragt, ob ich seinen gehörlosen Sohn ausbilden könne.“ Die Eltern, ein Musikerpaar, machten sich Sorgen um die Zukunft des Teenagers. „Tragisch war, dass David keine Gebärdensprache konnte, also keine eigentliche Muttersprache hatte. Wir konnten ihn trotzdem gut ausbilden, er ist noch immer bei uns im Team.“ Für eine präzise Information gerade in einem so sensiblen Bereich wie der Gesundheit sei es aber wichtig, in der Muttersprache kommunizieren zu können, meint Karin Simonitsch. Das gelte für die Ausbildung von Pharmazeut*innen, aber natürlich auch für alle Kund*innen, die in eine Apotheke kommen würden. Karin Simonitsch erkannte, dass gehörlose Mitarbeiter*innen ja auch gehörlose Kund*innen gut beraten können.

Gehörlose Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Marien Apotheke zu sechst auf einem Foto

Quelle: Marien Apotheke Wien

Inklusion und Innovation – ein Zusammenspiel

Auch deshalb konnte sie drei Arbeitsplätze für gehörlose Mitarbeiter*innen schaffen. „Die Marien Apotheke hat sich in den letzten Jahren zur Anlaufstelle für Gehörlose entwickelt“, sagt Karin Simonitsch. Es werde geschätzt, dass etwa 6.000 Menschen in Wien bei ihrer Kommunikation auf Beobachtung, Schrift und vor allem Gebärdensprache angewiesen sind, da sie entweder kein Gehör oder ein äußerst eingeschränktes Hörvermögen haben. Inklusion und wirtschaftliches Denken schließen sich also nicht aus. Im Gegenteil, beides ergänzt sich. Die Marien Apotheke bietet seit Anfang 2015 auch einen zweisprachigen Newsletter an: „Jedes Thema kann nun auch als Video in Österreichischer Gebärdensprache angesehen werden. Ein Link führt dabei direkt vom Newsletter zum Video mit unserem gehörlosen Apotheker Mag. pharm. Sreco Dolan“, so Karin Simonitsch.

Screenshot: http://www.marienapo.eu/videos-in-gebaerdensprache

Screenshot: http://www.marienapo.eu/videos-in-gebaerdensprache

Dass Inklusion und Innovation zusammengehören, sieht man an weiteren Angeboten der Marien Apotheke: Man spezialisiert sich auf eine besonders kompetente HIV-Beratung. Nachdem eine Infektion mit HIV ja längst kein Todesurteil mehr ist, es bei der medikamentösen Behandlung der nun chronischen Erkrankung aber viel zu beachten gibt, ist gute Beratung gefragt. Nicht nur in Wien, der Stadt des berühmten Charity-Events „Life Ball“.

In der Marien Apotheke finden sich auch ganz besondere Naturkosmetik-Produkte, die nun nicht lebenswichtig sind, aber einen deutlichen Hinweis geben auf den innovativen Wind, der hier weht: Die Produkte aus Skandinavien, Island, Finnland und Estland sind anderswo in Mitteleuropa schwer zu bekommen.

Apothekerin Simonitsch zeigt die Gebärde für "Apotheke"

Apothekerin Simonitsch zeigt die Gebärde für „Apotheke“

Auch zu wenige barrierefreie Arztpraxen

Für gehörlose PatientInnen sei es schwierig genug, Ärzte zu finden, mit denen sie sich verständigen können. In Wien gebe es nur eine Ambulanz – die der Barmherzigen Brüder -, die etwa gehörlose und schwerhörige Unfallopfer gut versorgen könne. „Ein Albtraum. Krank und verletzt und dann nicht richtig kommunizieren können,“ meint Karin Simonitsch. Österreichweit startete im Oktober 2013 ein Pilotprojekt, bei denen gehörlose Patient*innen per Video gedolmetscht werden. Gerade in akuten Situationen und Notfällen zählt jede Information und reibungslose Verständigung. Gehörlose Patient*innen können jetzt damit rechnen, dass ihnen ein*e Gebärdensprachdolmetscher*in via Monitor zur Verfügung steht.

In Wien nehmen am Pilotprojekt folgende Spitäler teil: Semmelweisklinik und Rudolfsstiftung, St. Anna Kinderspital, Meidlinger und Lorenz-Böhler-Krankenhaus. Ein Schritt in die richtige Richtung. Gerade im medizinischen Sektor gibt es noch viel zu tun, damit Menschen mit Behinderungen Zugang finden und sich verständigen können. Nicht nur in Österreich. Die Marien Apotheke ist auch für Rollstuhlnutzer*innen barrierefrei zu befahren. Nicht alle Apotheken sind das leider, auch nicht alle Arztpraxen.

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Titelbild: Quelle Marien Apotheke, Wien