Wie werden Menschen mit Behinderungen in Krimis dargestellt? Professor Ingo Bosse von der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund hat die Filme von Tatort und Polizeiruf 110 von 1999 bis 2009 daraufhin untersucht. Seine Kollegin, die Journalistin Anne Haage, schrieb für uns eine Zusammenfassung.

Die Lehrerin Ulrike Canarius liegt tot im Biologieraum  der Realschule, ermordet. Als Täter kommt sowohl der Schüler Rene infrage, der gerade den dritten Verweis von Frau Canarius bekommen hat, als auch sein Bruder Hannes, der mit einer frühkindlichen Hirnschädigung lebt und „Inklusionsschüler“ ist. Der Rektor der freien Realschule erklärt den Ermittlern der Soko Leipzig: „Wir sind der Meinung, er ist eine Bereicherung für unsere Schule.“

Hannes  – der Schauspieler ist selbst nicht behindert – knetet dauernd seine Finger, beißt sich auf die Unterlippe, streckt die Zunge heraus – das Fleisch gewordene Klischee eines Jungen mit kognitiven Einschränkungen: Meistens freundlich, manchmal unberechenbar und aggressiv, 100 Prozent fremdbestimmt. Da ist die penetrant belehrende Schulbegleiterin, die ihm nie von der Seite weicht, und Ruth, seine einzige Freundin, auch eine Außenseiterin. Hannes gesteht später den Mord – war er es wirklich, weil er manchmal ausrastet oder wird er vom Mörder nur benutzt? Die Folge „Klassenclown“ aus der ZDF-Krimiserie Soko Leipzig ist so angestrengt politisch korrekt und transportiert dabei ein Klischee nach dem anderen.

Menschen mit Behinderung sind in den letzten Jahren geradezu häufig in Krimis zu sehen. Die Behinderung ist meist ein zentrales Element der Handlung, das wesentlich zur Spannung beiträgt. Oft haben die Krimiserien auch den Anspruch, aktuelle gesellschaftliche Fragen aufzugreifen. Sie können Themen setzen und Diskussionen in den Medien und auf Social Media anstoßen. Ihre Reichweite ist enorm: Der Tatort führt mit bis zu 9,4 Millionen Zuschauern regelmäßig die Hitlisten der Fernsehfilme mit den höchsten Einschaltquoten an, dicht gefolgt vom Polizeiruf 110 und Soko Leipzig.

Der erste Befund: Menschen mit Behinderung kommen häufig vor.

In 45 der 354 Tatortfilme, die Ingo Bosse der TU Dortmund untersuchte, spielen Menschen mit Behinderung eine Rolle, das sind knapp 13 Prozent. Beim Polizeiruf 110 waren es sogar fast 20 Prozent (20 von 102 Filmen). Die hohe Zahl kam auch deshalb zustande, weil Hauptfiguren aus den Ermittlerteams mit Beeinträchtigungen leben, wie die Gerichtsmedizinerin Silke „Alberich” Haller im Münsteraner Tatort, gespielt von ChrisTine Urspruch, und der einarmige Münchner Kommissar Jürgen Tauber (Edgar Selge), der im Polizeiruf 110 ermittelte. Seit 2011 hat im Kieler Tatort Kommissar Borowoski mit Sarah Brandt eine neue Kollegin mit Epilepsie (Sibel Kekilli).

Am häufigsten kommen nach Bosse Protagonistinnen und Protagonisten mit körperlichen Beeinträchtigungen vor, gefolgt von Menschen mit einer kognitiven Einschränkung. Hier dominieren Akteure mit Trisomie 21 (Down-Syndrom.) Sie werden auch meist von Schauspielern mit Trisomie 21 verkörpert, wodurch die Figuren deutlich authentischer sind. Gehörlosigkeit und Blindheit war im Untersuchungszeitraum nur selten zu sehen.

Behinderung als bestimmendes Merkmal

Sind Menschen mit Behinderung Akteure, so spielt ihre Behinderung eine zentrale Rolle: „Die Behinderung der Person wird zumeist als bestimmendes Merkmal ihrer Persönlichkeit dargestellt, nie als eine Facette unter vielen. Sie wird damit zum Masterstatus“, so Ingo Bosse. In der Folge „Freischwimmer“ (Tatort Leipzig) z.B. ist Leo Stein, ein junger Mann mit Trisomie 21, das Mordopfer einer Jugendgang, die Menschen mit Behinderung verachten. Im Polizeiruf Halle wird die mehrfach behinderte Tochter Aurelia (keine behinderte Schauspielerin) nur als Belastung innerhalb der schwierigen Beziehung des Mordopfers zu seiner Frau empfunden („Tod im Atelier„).

Ein Beispiel hingegen, bei dem die Behinderung auch einmal eine Facette unter vielen sein kann, lieferte der Bremer Tatort „Brüder“ vom 23. Februar 2014 mit einer Nebenrolle: Ein Zeuge saß zwar im Rollstuhl, das war für die Figur des Zeugen und die Handlung aber völlig unwichtig. In „Rosis Baby“ (Polizeiruf 110 München) wird eine Figur mit Behinderung sogar als emanzipiert dargestellt: Rosi, eine junge Frau mit Trisomie 21, ist, die einzige Zeugin des Überfalls auf ihre Mutter. Sie arbeitet in einer Werkstatt und geht in einen Tanzkurs, hat einen Freund und ist von ihm schwanger. Vor dem Überfall stritt sie mit ihrer Mutter, weil diese sie zur Abtreibung zwingen wollte. Die Tatsache, dass Rosi von Juliana Götz, einer Schauspielerin mit Trisomie 21, gespielt wird, bringt der Rolle eine größere Authentizität, die z.B. Aurelia im Polizeiruf Halle fehlte – nach Ingo Bosse kommuniziert sie unheitlich, erst verständlich, später unverständlich.

Spiel mit Stereotypen

Stereotypen und Vorurteile werden in allen untersuchten Filmen thematisiert. „Rosis Baby“ spielt zum Beispiel mit der Unsicherheit der beiden Kommissare im Umgang mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen: Wie spricht man mit Rosi, sollen Sie die Mitarbeiterin in der Werkstatt duzen oder siezen? Als Kommissar Tauber Rosi näher kennenlernt, ist er von ihr als „lieber, grundehrlicher Mensch“ begeistert. Kurz danach muss er allerdings feststellen, dass sie ihn angelogen hat. Auch der Zuschauer wird sein Bild des „lieben“ Menschen mit Trisomie 21 damit um ein realistischeres, vielfältigeres Bild erweitert haben.

Auch der Münsteraner Tatort spielt mit Stereotypen und hat  (wie „Rosis Baby“) den Bobby-Medienpreis der Lebenshilfe erhalten. Die Jury würdigte „den humorvollen Umgang mit dem vermeintlichen Defizit“ der kleinwüchsigen Gerichtsmedizinerin, denn „Behinderung und das Abweichen von der DIN-Norm werden nicht als ‚Leidensthema‘ wahrgenommen, sondern als Besonderheit, die Positives und Humor bergen kann.“ Bosses Fazit: Stereotype und Vorurteile werden zwar aufgegriffen, aber „die Form, in der sie transportiert werden, regt oftmals zum Nachdenken über Stereotype an.“

Breites Themenspektrum zu „Behinderung“

Die untersuchten Folgen bearbeiten ein breites Themenspektrum, was Behinderung angeht. So war „Rosis Baby“ der erste Spielfilm in Deutschland, der eine Sexszene zwischen Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung zeigte. Nach Ingo Bosse erfahre man viel darüber fand „wie Menschen mit Behinderung leben und wie die Gesellschaft mit ihren behinderten Mitgliedern umgeht,“ auch wenn es um Themen ginge wie „Verarbeitungsprozess bei spät erworbenen Beeinträchtigungen, Respekt vor Selbstbestimmung und Autonomie, Gewalt und Diskriminierung, Überwindung einer Beeinträchtigung“.

Ein leuchtendes Beispiel lieferte Ende des vergangenen Jahres auch der Tatortreiniger (NDR), eher eine Comedy- als Krimireihe. Die Folge „Fleischfresser“ spielt ganz großartig mit den Unsicherheiten im Umgang mit Menschen im Rollstuhl, als Tatortreiniger Schotty am Tatort die Nachbarin Kim kennenlernt: Je näher sich beide kennen lernen, desto mehr wird klar, dass es nicht ihre Querschnittslähmung ist, die Kim immer wieder vor Probleme stellt, sondern vielmehr ihre Überzeugung als Veganerin.

Titelbild: Screenshot Br.de