Shabnam und Wolfgang Arzt haben ein Buch über ihre Tochter Jaël geschrieben. In „Umarmen und Loslassen“ erzählen sie vom Leben mit Trisomie 18 und einer emotionalen Achterbahnfahrt durch dreizehn Kinderjahre.
Als ich das Buch nach dem letzten Satz schließe, muss ich mir erstmal die Tränen von den Wangen wischen. „Umarmen und loslassen“ von Shabnam und Wolfgang Arzt verlangt den Leser*innen emotional einiges ab – auch, wenn man schon weiß, wie die Geschichte endet. Und vor allem, wenn man selbst vor gut einem Jahr Mutter geworden ist. Aber von vorne:
In „Umarmen und loslassen“ hat das Ehepaar Arzt die Geschichte ihrer Tochter Jaël aufgeschrieben. Die Eltern erfahren im achten Schwangerschaftsmonat, dass die Tochter vermutlich einen schweren Chromosomendefekt haben wird. Nach mehreren Untersuchungen zeichnet ein Arzt ein Horrorszenario: „Wir hatten in den letzten zwei Monaten bereits vier derartige Fälle. Eines der Kinder ist auf die Welt gekommen und hat jetzt große Probleme. Wollen Sie das Ihrem Kind und sich selbst wirklich antun?“ Das Ehepaar Arzt ist schockiert – vor allem davon, wie mit ihnen in den Arztpraxen umgegangen wird. Sie fühlen sich zum Abbruch der Schwangerschaft gedrängt und nicht ausreichend darüber informiert, was in der kommenden Zeit auf sie zukommt. Bei einer Untersuchung in der Kölner Uniklinik fällt zum ersten Mal der Begriff „Trisomie 18“ (Edwards-Syndrom).
Die Ärzte prognostizieren zahlreiche körperliche Fehlbildungen – häufig ist bei dieser Diagnose der Kopf sehr klein, aber nach hinten ausladend, die Augen können betroffen sein sowie Finger und Füße. Schwerwiegender wären aber die Auswirkungen auf die inneren Organe: Herz, Nieren, der Magen-Darm-Trakt und das Gehirn können betroffen sein. Meistens sterben die Kinder früh. Aber: Der Arzt in der Uniklinik gibt den Eltern ein gutes Gefühl. Die endgültige Diagnose könne man erst nach der Geburt stellen. Sie entscheiden sich gegen die Fruchtwasseruntersuchung und für ihr Kind. Auch, um nach dem Klinikmarathon einfach zur Ruhe zu kommen.
Am 15. September 2001 kommt Jaël zur Welt. Neun Tage müssen die Eltern auf das Ergebnis der Blutuntersuchung warten. Dann steht fest: Jaël hat tatsächlich das Edwards-Syndrom, eine Entwicklungsstörung, verursacht durch eine Chromosomenstörung. Für die Eltern eine schwere Diagnose – und vor allem eine, deren Verlauf völlig unvorhersehbar ist. Die Ärzt*innen nehmen sich nur wenige Minuten Zeit für das Paar – was genau auf sie zukommen könnte, müssen sie im Anschluss selbst recherchieren. In den meisten Fällen sterben Kinder mit Trisomie 18 kurz nach der Geburt. Davon scheint auch das Klinikpersonal überzeugt zu sein – im Buch macht es für mich den Eindruck, als würde es sich für sie nicht lohnen, die Eltern weiter aufzuklären. Jaël aber lebt. Und entwickelt sich nach einigen Startschwierigkeiten so gut, dass die Eltern sie knapp drei Wochen nach der Geburt mit nach Hause nehmen können.

Empathielose Diagnosegespräche
Entgegen aller Prognosen und Erwartungen wird Jaël dreizehn Jahre alt. 2014 stirbt sie friedlich im Beisein ihrer Eltern. Die erzählen im Buch ihren gemeinsamen Weg von der ersten Diagnose bis zur Beerdigung und die Zeit der Trauer danach. Abwechselnd berichten Vater und Mutter von ihren Gefühlen, Erfahrungen, Gedanken und vor allem vom Zusammenleben mit Jaël. Sie bleibt auf dem motorischen Entwicklungsstand eines Babys und benötigt rund um die Uhr Versorgung und Hilfe. In schlechten Phasen krampft sie mehrmals die Stunde und die Eltern bangen jedes Mal um das Leben ihrer Tochter. Vor allem Shabnam Arzt ist in ihren Texten schonungslos ehrlich und erzählt, dass sie sich das Leben mit einem Kind anders vorgestellt hat – nun zehren vor allem die Erfahrungen in Kliniken und mit Ärzten an ihr. Das ist für mich als Leserin besonders anstrengend zu lesen. Vorstellen kann ich mir den Empathiemangel in den Diagnosegesprächen allerdings zu gut. „Keine Angst, der wird nicht so wie Sie“, sagte ein Arzt in der Schwangerschaft nach einem Ultraschall, mit besonderem Blick auf Kleinwüchsigkeit, zu mir.
Aber: Shabnam und Wolfgang Arzt zeigen mit dem Buch auch, dass dieser Weg für sie möglich war. Dass sie die dreizehn Jahre mit ihrer Tochter so ausgekostet und genossen haben, wie es nur möglich war. Dass dieser Weg unfassbar anstrengend und aufreibend ist, aber mit der Hilfe von Freund*innen und Familie – und mit viel Unterstützung von fachkundigem medizinischem Personal zu meistern ist. Die Eltern profitieren von einer guten Einbindung in eine sehr engagierte Kirchengemeinde und ein großes Unterstützer*innennetz, das jederzeit einspringt und für sie und ihre Tochter da ist. Wolfgang Arzt arbeitet in der Zeit als Sozialpädagoge in der Jugendarbeit – direkt vor Ort und mit flexiblen Arbeitszeiten, so dass er Jaël zur Schule und zu Ärzten fahren kann und sich viel Care-Arbeit mit seiner Frau, die komplett bei der Tochter bleibt, teilen kann. Sie erzählen, wie sie auch als Paar viele Situationen gemeistert haben, noch mehr aneinander und mit Jaël gewachsen sind und über die Jahre weiter an ihrer Beziehung festgehalten haben.
Auch Mediziner*innen können vom Buch lernen
Im Medienecho zum Buch wird Jaël als „Wunderkind“ beschrieben, um in Worte zu fassen, dass sie als einer von wenigen Menschen mit Trisomie 18 älter als ein paar Monate geworden ist. Sicher mehr medizinischer Zufall als ein Wunder – trotzdem spüre ich als Leserin die Dankbarkeit der Eltern für die Zeit, die ihnen mit dem Kind geschenkt wurde. Andere schreiben von einem Wunschkind, bei dem die Ärzte dann die Chromosomenstörung feststellen. Wenn man eines lernt in diesem Buch, dann dass Jaël immer ein Wunschkind war und geblieben ist – unabhängig von der Diagnose der Ärzt*innen.
Auf welt.de schreibt Barbara Driessen ein gutes Porträt über die Eltern und die Bucherscheinung. Am Ende des Artikels lässt sie Oberärztin Gisela Janßen zu Wort kommen. Sie leitet das Sternenboot, ein Kinderpalliativteam der Uniklinik Düsseldorf, das die Familie Arzt in der letzten Lebensphase von Jaël begleitet hat. Janßen empfiehlt das Buch vor allem auch Mediziner*innen: „Auch wir Professionellen können viel daraus lernen, etwa, was in den Eltern vorgeht.“ Dem kann ich mich nur anschließen. Das Buch ist ein lehrreicher Einblick in die Gedanken und Gefühle eines Elternpaares, das mit den „Ratschlägen“ von Pränataldiagnostiker*innen und Ärzt*innen überfordert ist, sich seinen eigenen Weg sucht und versucht, auf die Wünsche und Bedürfnisse seiner Tochter einzugehen. Es hat nicht den Anspruch, ein allgemeiner Ratgeber für die Diagnose Trisomie 18 zu sein. Aber es gibt Mut und vor allem die wichtige Erkenntnis, dass ein Leben mit Behinderung immer lebenswert gestaltet werden kann.
Schon vor der Veröffentlichung des Buches hat das Ehepaar Arzt einen Blog geschrieben, auf dem alle wissenswerten Fakten über Jaël und das Edwards-Sydnrom zu finden sind.
Das Buch
Shabnam und Wolfgang Arzt: Umarmen und loslassen
erschienen im LUDWIG-Verlag
Fotos: Screenshots www.trisomie-18.de/blog/