Mehr als 800 Bewohner*innen, 1100 Angestellte, ein Ort: Neuerkerode in Niedersachsen. Seit 150 Jahren leben dort Menschen mit Lernschwierigkeiten. Zu diesem Jubiläum wurde „Der Umfall“, eine Graphic Novel über den Ort veröffentlicht. Jonas Karpa sprach mit dem Comiczeichner und Autor Mikael Ross und dem Direktor von Neuerkerode Rüdiger Becker über die Entstehung des Buches und das Leben in diesem exklusiven Ort.
Mit dem Schlaganfall von Noels Mutter fing alles an. Denn plötzlich änderte sich nicht nur das Leben seiner Mutter, sondern auch seins. „Der Umfall“, so heißt die neue Graphic Novel des Berliner Comiczeichners und Autors Mikael Ross. Hauptfigur der Geschichte ist Noel, ein junger Mann, der Lernschwierigkeiten hat. Er erfährt, dass seine Mutter nach dem Schlaganfall anscheinend nicht mehr für ihn sorgen kann und er umziehen muss. Umziehen bedeutet für Noel aber nicht, dass er um die Ecke, ein paar Straßen weiter eine neue Wohnung bezieht. Sondern, dass er seine Heimatstadt Berlin ganz verlässt. Sein neues zu Hause ist nun eine Betreuungseinrichtung für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung.
Die Graphic Novel erzählt von Noels neuem Leben, in dem er auf der einen Seite zum ersten Mal auf sich allein gestellt ist und auf der anderen Seite auch zum ersten Mal mit vielen anderen Menschen zusammen wohnt.
Autor Mikel Ross beschreibt in seinem Werk erstaunlich präzise die Gefühlswelt und die Gedanken seiner Figur Noel, die sich mit der neuen Situation arrangieren muss. Dabei spielen auch emotionale Themen wie Vertrauen, Sympathie und Liebe eine große Rolle. Es ist deutlich zu spüren, wie sehr sich Ross mit Noel beschäftigt und das Unverständnis der Figur über manche Situationen und Handlungen herausgearbeitet hat.

Mikael Ross
Mikael Ross wurde 1984 in München geboren und absolvierte nach seinem Schulabschluss eine Ausbildung zum Theaterschneider an der Bayrischen Staatsoper. Später zog er nach Berlin und studierte dort an der Kunsthochschule Weißensee. In dieser Zeit veröffentlichte er seine erste längere Erzählunge „Herrengedeck“.
Während eines Auslandsjahres an der Brüsseler Hochschule lernte er den belgischen Comickünstler Nicolas Wouters kennen, mit dem er 2016 die Bücher „Lauter Leben!“ und „Totem“ veröffentlichte. 2018 erschien die Grapahic Novel „Der Umfall“, die durch das erste Comic-Stipendium des Berliner Senats gefördert wurde.
Sich komplett in eine Figur hineinzuversetzen, die Lernschwierigkeiten hat, war für Mikael Ross eine besondere Herausforderung. „Ich selbst bin weder in meinem beruflichen, noch meinem privaten Umfeld mit Menschen mit Behinderung in Berührung gekommen“, sagt Ross und fügt hinzu, dass es „schon erstaunlich ist, dass selbst in so einer Großstadt wie Berlin wenige Menschen mit Behinderung im Stadtbild zu sehen sind.“ Da ihn aber das Leben von behinderten Menschen interessiere, war es wie ein „Glücksfall“, als 2016 der Anruf aus der Gemeinde Neuerkerode kam, die anlässlich ihres 150-jährigen Bestehens gerne einen Comic über Menschen mit Behinderung und die Geschichte ihres Bestehens veröffentlichen wollte.

Neuerkerode
Neuerkerode ist ein Ortsteil der Gemeinde Sickte im Landkreis Wolfenbüttel in Niedersachsen. Ende des 19. Jahrhunderts entstand auf einer Fläche von knapp 250 Hektar ein ganzes Dorf für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Heute leben und arbeiten hier über 800 Menschen mit Behinderung und zusätzlich über 1000 Stiftungsmitglieder der evangelischen Stiftung Neuererode.
„Für mich war das eine große Ehre. Der Direktor Rüdiger Becker hatte meine Bücher ‚Lauter Leben!‘ und ‚Totem‘ gelesen und wollte statt einer Chronik oder Festschrift zum Jubiläum ein Comic über Neuerkerode.“ Eine ungewöhnliche Anfrage und für Ross ein ungewöhnliches Thema. „Ich habe erst etwas gezögert. Für mich war dieses Thema quasi Neuland und ich habe erst einmal den Ort gegoogelt. Ich war mir nicht sicher, ob ich es schaffen würde, mit einer Geschichte dem Ort und vor allem den Bewohnern gerecht zu werden.“ Die anfänglichen Bedenken verschwanden dann aber recht schnell, nachdem die Rahmenbedingungen für die Erarbeitung des Buches festgelegt wurden: Fast zwei Jahre lang fuhr Ross regelmäßig für mehrere Tage nach Neuerkerode, um möglichst viel vom Leben im Ort kennen zu lernen. „Ich habe versucht, so viel wie möglich wie ein Schwamm aufzusaugen,“ sagt er. Dabei wurde ihm die Ankunft im Dorf sehr leicht gemacht: „Nicht nur ich war neugierig, sondern die Bewohner natürlich auch. Ich habe mich anfangs sehr zurück gehalten und viel beobachtet. Aber mit der Zeit kamen dann immer mehr Menschen auf mich zu, fragten was ich mache oder erzählten mir ihre Geschichte.“
Neuerkerode – eine wechselhafte Geschichte in 150 Jahren
Neben der Lebensgeschichte der Bewohner*innen schnappte Mikael Ross auch die Geschichte des Ortes selbst auf. Dazu gehört auch eines der dunkelsten Kapitel: In der Zeit des Nationalsozialismus wurden in Neuerkerode Euthanasien durchgeführt. Da “Der Umfall“ in Neuerkerode spielt, findet auch die NS-Zeit in dem Buch ihren Platz. In der Geschichte erzählt eine ältere Dame in einer Art „Flashback“ von ihren Erlebnissen des Holocausts. „Diese 90-jährige Frau mit dieser Geschichte hat es wirklich gegeben“, erzählt Ross. Aber natürlich habe sie, zum Schutz ihrer Privatsphäre, in dem Buch einen anderen Namen. Generell seien seine Charaktere in der Geschichte stark von den Bewohner*innen Neuerkerodes inspiriert worden. Aber keine Figur, verrät Ross, sei eins zu eins übernommen worden. Er habe die vielen verschiedenen Facetten der Menschen gesammelt und eingebaut.

Obwohl in dem Buch die Geschichten der Neuerkeroder*innen erzählt werden, bleibt festzuhalten, dass es sich hier um ein Werk über und nicht von Menschen mit Behinderung handelt. „Natürlich kann man mir vorwerfen, dass ich das Buch nicht gemeinsam mit den Bewohnern in einer Art Projekt erstellt habe“, sagt Mikael Ross. Er habe aber gemerkt, dass viele in ihrem beruflichen Alltag und ihren anderen Hobbys sehr stark eingebunden seien, was ein kontinuierliches Arbeiten an einem längeren Projekt schwierig gestaltet hätte. Rüdiger Becker, der Direktor der Stiftung Neuerkerode, beschreibt den Lebensalltag der Bewohner*innen wie den von jedem anderen: „Sie gehen ganz normal arbeiten, übernehmen Aufgaben in der Dorfgemeinschaft und gehen am Nachmittag ihren Freizeitaktivitäten nach. Unser Förderschwerpunkt liegt dabei auf kulturellen und künstlerischen Gebieten.“
Wenn Becker hier von „normal arbeiten“ spricht, dann meint er zumeist Werkstätten, in die die Bewohner*innen gehen. Nur in wenigen Fällen werden auch Jobs auf dem ersten Arbeitsmarkt vermittelt. Da in Neuerkerode ausschließlich erwachsene Menschen wohnen, ist die schulische Förderung auf Ausbildungsberufe beschränkt. Diese ist in dem Dorf auf Landschaftspflege, Floristik, Küche und Hauswirtschaft spezialisiert. Besonders stolz sind sie in Neuerkerode über eine in diesem Jahr neu gegründete Gesellschaft, in der Menschen mit und ohne Behinderung zusammen arbeiten und sich um die Essensversorgung von inklusiven Kindertagesstätten kümmern.

Rüdiger Becker
Rüdiger Becker wurde 1962 in Duisburg geboren, studierte in Marburg und Göttingen Theologie und verbrachte zwei Studienjahre in Aarhus (Dänemark). Von 1994 bis 2000 war er Mitglied der Landessynode, von 1999 bis 2000 Mitarbeiter des Direktionsstabes beim Direktor des Diakonischen Werkes in Braunschweig. Seit 2003 ist er dort Verwaltungsratsmitglied. Seit Juni 2000 ist er Referent des Landesbischofs. 2004 übernahm er als Direktor die Leitung der Stiftung Neuerkerode.
Gegen Stimmen, die das Lebenskonzept Neuerkerodes als exklusiven Ort bezeichnen, wehrt sich Becker energisch. Jeder Mensch brauche ein Umfeld, in dem er sich mit seinesgleichen zurückziehen könne, so Becker. Nur weil es für manche Menschen mit geistiger Behinderung angenehmer sei, sich in einem geschützten Bereich zu bewegen, könne man dem Ort nicht das Ziel der Inklusion abschreiben. Die Inklusionsdebatte könne auch das Recht auf einen eigenen Raum verhindern.
„Wir zwingen ja keinen hier zu sein“, sagt er süffisant und: „es leben ja nicht nur Menschen mit Behinderung hier, sondern auch ohne.“ Ziel sei es aber natürlich, in Zukunft noch inklusiver zu werden. Inklusion mache Becker aber nicht an einem geografischen Ort fest, sondern vielmehr an den soziokulturellen Strukturen. Erst durch Beziehungen zu anderen Menschen, so wie es in Neuerkerode der Fall ist, könne Teilhabe entstehen, meint Becker. Wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stabil blieben und die politischen Strukturen nicht zu sehr von rechten Kräften dominiert werden, dann könne auch Neuerkerode immer inklusiver werden und seinen Status als konzentrierten Ort verlieren.
Ihn als Konzept ganz abzuschaffen hält Rüdiger Becker jedoch für den falschen Weg. Vielmehr könne der als „Ausgezeichneter Ort im Lande der Ideen“ betitelte Ort als Vorbild für andere Dörfer und Städte dienen und für eine offenere und teilhabeorientierte Gesellschaft sorgen.
“Der Umfall“ schafft es durch die ausgiebige Recherche auf jeden Fall, einen kleinen Einblick in die Lebenswelt von Menschen mit Lernschwierikeiten zu geben. Das Stilmittel des Comics wurde dabei bewusst gewählt, um durch die zusätzliche Bildebene den Zugang und das Verständnis zu erleichtern. Die Figuren und die verschiedenen Szenarien sind mit viel Liebe zum Detail gezeichnet und geben die erlebten Gefühle sehr eindrücklich wieder. Das funktioniert teilweise so gut, dass der Text in den Gedanken- und Sprechblasen kein Muss ist. Generell ist der Anteil an Schriftsprache überschaubar und leicht gehalten, was dem Verständnis der Geschichte zu Gute kommt.
Vielleicht könnte Mikael Ross – wenn er die Geschichte noch einmal erzählen würde – seine Hauptfigur Noel schon bald in Berlin wohnen lassen, weil ein Umzug nach Neuerkerode nicht mehr nötig ist, um an der Gesellschaft teilzuhaben.
Graphic Novel: „Der Umfall“, avant-verlag, 128 Seiten, 28 Euro
Fotos: avant-verlag / ev. Stiftung Neuerkerode / Nina Stiller