Getreu dem Motto „Building Bridges“ (Brücken bauen) strahlt der Österreichische Rundfunk (ORF) den 60. Eurovision Song Contest (ESC) möglichst barrierefrei und inklusiv aus. Das größte Unterhaltungsevent Europas wird für gehörlose und schwerhörige Menschen live untertitelt, für blinde Menschen audiokommentiert und in „International Sign“ (Internationaler Gebärde) präsentiert. Dafür notwendig sei ein gut eingespieltes Team aus GebärdensprachdolmetscherInnen, Performern und TechnikerInnen, schreibt Karin Chladek und fragt, ob ein inklusiver Song Contest als Wegbereiter für barrierefreies Fernsehen dienen kann.

Erstmals wird für gehörlose Menschen der Eurovision Song Contest im Fernsehen auch in internationaler Gebärdensprache angeboten. Die Lieder, sowie die Live-Bühnenmoderationen und die jeweiligen Zuspielungen werden in internationale Gebärdensprache übersetzt und präsentiert. Bereits 2014 wurde in Kopenhagen das Finale des Song Contests vom dänischen Fernsehen in dänischer Gebärdensprache angeboten. Der ORF geht weiter und strahlt beide Semifinales, sowie das Finale am 23. Mai live in internationaler Gebärdensprache aus. Das ganze Projekt der Gebärdensprachübersetzung nennt der ORF „Eurovision Sign“. Julia Zangerl vom ORF erklärt internationale Gebärdensprache: „Es gibt ja viele nationale Gebärdensprachen. Zur internationalen Verständigung braucht es aber eine gemeinsame Sprache. Das ist die internationale Gebärdensprache, die sich aus Elementen verschiedener nationaler Gebärdensprachen zusammensetzt und sehr intuitiv verständlich ist.“ Seit Wochen arbeitet ein dreiköpfiges Dolmetscherteam daran, die Songs der teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler, die in der Mehrzahl auf Englisch (oder in einer anderen Sprache) interpretiert werden, in internationale Gebärdensprache zu übersetzen und mit Hilfe von „Storytelling“ für gehörlose Menschen erfahrbar zu machen.

Im Bild (v.li.): Xiaoshu Alice Hu (Performerin, Shanghai/China), Delil Yilmaz (Gebärdensprachdolmetscher), Ragna Huse (Performerin, Norwegen), Jonas Akanno (Performer, Nigeria), Camilla Abelgren-Michaelsen (Performerin, Dänemark), Klavs Gerdes (Performer, Dänemark), Karin Lang (Performerin, Österreich), Georg Marsh (Gebärdensprachdolmetscher). SENDUNG: ORF eins. Foto: ORF/Milenko Badzic.

Im Bild (v.li.): Xiaoshu Alice Hu (Performerin, Shanghai/China), Delil Yilmaz (Gebärdensprachdolmetscher), Ragna Huse (Performerin, Norwegen), Jonas Akanno (Performer, Nigeria), Camilla Abelgren-Michaelsen (Performerin, Dänemark), Klavs Gerdes (Performer, Dänemark), Karin Lang (Performerin, Österreich), Georg Marsh (Gebärdensprachdolmetscher). SENDUNG: ORF eins. Foto: ORF/Milenko Badzic.

Wer nicht hören kann, kann fühlen

Wie lässt sich Musik überhaupt übersetzen? Wird nur der Text übersetzt oder auch die Melodie? Dazu der Projektteamleiter von „Eurovision Sign“, Delil Yilmaz: „Das ist vermutlich die erste Frage, die sich hörende Menschen stellen. Wer nicht hört, kann doch nicht Musik empfinden, sagen viele. Aber genau um dieses Empfinden geht es: Mit allen Sinnen begreifen heißt nicht, dass ich hören muss. Ich kann als Nichthörender Musik über andere Kanäle wahrnehmen. Wenn jemand noch nie gehört hat, ordnet er Sehen oder Vibrationen dem zu, was in der Welt vorhanden ist. Das ist keine Einschränkung. Das ist anders. Man muss nicht hören, um zu spüren, um Gefühle zu empfinden.“

Das Training für den Song Contest konzentriert sich auf internationale Gebärden, damit alle KünstlerInnen mit ihren Songtexten von einem vielsprachigen Publikum verstanden werden. Es ginge dabei weniger um direkte Übersetzung als um die kreative Wiedergabe von Stimmungen, so Yilmaz.

In der Europäischen Union leben rund 750.000 Gehörlose, die in Gebärdensprache kommunizieren. In Österreich sind es etwa 8.000 bis 10.000 Menschen, die sich vorwiegend mit Gebärdensprache austauschen, von den insgesamt mehr als 200.000 schwerhörenden und gehörlosen Menschen im Land. Dabei ist die Gebärdensprache auch immer eng mit der Gehörlosenkultur verbunden. Gebärdensprachdolmetscher Yilmaz erklärt: „Gebärdensprache ist keine erfundene Kunstsprache und auch nicht in allen Ländern gleich. Gebärdensprachen haben in der jeweiligen nationalen Form eigene Vokabeln und auch eine eigene Grammatik und Syntax.“

(Virales Video mit schwedischem Gebärdensprachdolmetscher Tommy Krångh)

Untertitel und Gebärdensprache

Beide Halbfinale des Song Contests am 19. und 21. Mai und das Finale am 23. Mai werden zur Gänze untertitelt, wobei die Songs in der jeweiligen Originalsprache zum Großteil auf Englisch mit Untertiteln ausgestrahlt werden. Die Moderationen werden live deutsch untertitelt. Für die beiden Semifinal-Shows wird „Eurovision Sign“ via Livestream übertragen; bei der Finalshow ist die „Eurovision Sign“-Version zudem auf ORF 2 Europe zu sehen.

Der ORF hat diese Inhalte den beteiligten internationalen Sendern als Teil des ESC-Gesamtpakets angeboten.  Die Sender müssen also nichts extra zahlen, um auch die Gebärdensprachversion online oder im Fernsehen anbieten zu können. Allen Ländern und Rundfunkstationen, die den Eurovision Song Contest ausstrahlen, wurden auch die Übertragungsrechte für „Eurovision Sign“ – als TV-Signal und Online-Stream – angeboten. Neben Österreich haben sich Deutschland, Dänemark, Finnland, Lettland, Norwegen, Schweden, die Schweiz und Slowenien dazu entschieden, „Eurovision Sign“ im Fernsehen auszustrahlen. Nach wie vor besteht für weitere Länder die Möglichkeit, den Online-Live-Stream zu übernehmen.

Der ESC als Wegbereiter für barrierefreies Fernsehen?

Für blinde und sehbeeinträchtigte Menschen werden die beiden Semi-Finals  und das Finale audiokommentiert. Bleibt zu hoffen, dass der 60. Eurovision Song Contest eine Signalwirkung entfaltet, um die barrierefreien Angebote europäischer Fernsehsender insgesamt zu verbessern. Ein barrierefreier Song Contest macht noch kein barrierefreies Fernsehangebot während des übrigen Jahres. Man darf nicht vergessen, dass weder die deutschen öffentlich-rechtlichen Sender, noch der ORF es bislang geschafft haben, ihr Programm 24 Stunden am Tag zu untertiteln, wie das in den USA und Großbritannien bereits seit Jahren der Fall ist. Doch wenn der ORF allein für die Produktion von „Eurovision Sign“ mit GebärdensprachdolmetscherInnen und gehörlosen DarstellerInnen nach eigenen Angaben rund 130.000 Euro ausgegeben hat, fragt man sich ja dann doch, warum auf einmal Geld da ist, wo sonst auf Kosten anderer eingespart wird.

 

Titelbild: Gebärdensprachdolmetscher Delil Yilmaz. SENDUNG: ORF eins Foto: ORF.