Im Jahr 1985 erschien mit „Geschlecht: Behindert, besonderes Merkmal: Frau“ das erste deutsche Sachbuch, das Frauen mit Behinderung selbst schrieben. 25 Jahre später wurde 2010 das Buch „Gendering Disability“ veröffentlicht. Unsere Autorin Tanja Kollodzieyski vergleicht anlässlich des Internationalen Frauen*tags: Welche Entwicklungen gab es in den 25 Jahren dazwischen und welchen Einfluss haben die Bücher noch heute? 

Erstmals betraten Frauen mit Behinderungen die deutsche Bühne der öffentlichen Aufmerksamkeit im Dezember 1981. Das Jahr 1981 galt als „Jahr der Behinderten“. Diese von der UNO verordnete Beachtung nutzte die „Krüppelbewegung“ für viele Demonstrationen und politische Aktionen, um die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen sichtbar zu machen. Innerhalb dieser Bewegung gründeten Menschen mit Behinderung ihre eigenen politischen Gruppen, zu denen nichtbehinderte Menschen keinen Zutritt bekamen.

Durch diese Eintrittsbeschränkungen und der Selbstbezeichnung als „Krüppel“ rebellierten sie gegen ein System, das ihre Eltern und andere nichtbehinderte Menschen dominierten. Zum allerersten Mal in Deutschland organisierten sich Menschen mit Behinderungen selbst, um in den 1970er und 80er Jahren für ihre Rechte zu kämpfen. Ein Höhepunkt dieser Bewegung war das Krüppeltribunal im Dezember 1981. Dort forderten auch Frauen mit Behinderungen zum ersten Mal öffentlich ihre Rechte ein. Vor allem thematisierten sie aber auch die hohe Zahl der Missbrauchsfälle und brachen damit erstmals ein Tabuthema, das bis heute noch besteht.

Ein Buch von behinderten Frauen

Nur vier Jahre später -1985 – veröffentlichte eine Gruppe von sieben Herausgeberinnen mit Behinderung das Buch „Geschlecht: behindert. Besonderes Merkmal: Frau.“ Zu ihnen gehörten unter anderen Carola Ewinkel und Gisela Hermes, die bis heute die Disability Studies in Deutschland aktiv mitgestalten. Der Untertitel des Buches war eine Revolution: „ein Buch von behinderten Frauen“. In dem Vorwort zum Buch schreiben die Herausgeberinnen:

 „Uns geht es darum, ein Buch herauszugeben, dass nicht über behinderte Frauen, sondern von uns selbst geschrieben ist(…).“

Eine Idee, die einzigartig war und einen Durchbruch für die Selbstvertretung von behinderten Frauen darstellte. Die zeitgenössische Bedeutung dieses Buches kann gar nicht zu hoch bewertet werden. In einer Gesellschaft in der sonst nur Fachleute Sachbücher über „die Behinderten“ schrieben, war diese feministische und vor allem eigene Sichtweise etwas komplett Neues.

Raum für Diskussionen schaffen

Das Buch teilt sich in acht thematische Kapitel auf. Im ersten Teil berichten verschiedene Frauen sehr persönlich über die teilweise problematischen Bindungen zu ihren Familien. Manche der Frauen berichten von Eltern, die sie mit ihrer Fürsorge fast erdrückten: „Das behinderte Kind schien eine Chance zu sein, den Nachholbedarf an Liebe und Anerkennung zu decken.“ In anderen Familien dagegen gab es eine sehr distanzierte Beziehung zwischen den Eltern und ihren Kindern: „Meine Mutter steckt mir lieber Geld zu, bevor sie mit mir irgendwo hingeht.“

Nach den Familienberichten folgen Betrachtungen zum Schönheitsideal und zur Darstellung behinderter Frauen in den Medien. Gleich mehrere Kapitel befassen sich mit der Sexualität der Frauen. Das geschieht jeweils unter einem anderen Schwerpunkt: Die Schwangerschaftsabbruchsregelungen, die in den 80er Jahren bereits so umstritten waren wie in der heutigen Diskussion. Auch die Themen Vergewaltigung, Sterilisationen und Mütter mit Behinderung bekommen ein einiges Kapitel. Zum Abschluss thematisieren verschiedene Autorinnen die Diskriminierungen im Bildungsbereich. Sie fordern, dass Mädchen und Frauen gleichberechtigte Zugänge zu Schule und Beruf erhalten. Alles Forderungen, die auch heute noch immer nicht vollständig umgesetzt wurden.

Die Übergänge zwischen eigenen Erfahrungen und allgemeinen gesellschaftlichen Betrachtungen sind oft fließend. Das passt wiederum gut zum Ziel des Buches: Die Autorinnen und Herausgeberinnen wollten nichts abschließend feststellen. Eher im Gegenteil: Sie wollten etwas beginnen und endlich Raum für Diskussionen schaffen. Im Schlusswort schreiben die Autorinnen, dass sich Frauen mit Behinderungen den Forderungen der Frauenbewegung anschließen müssten, um „gegen die einengenden Männernormen zu kämpfen.“ Das Ziel dürfe nicht sein, genauso belästigt zu werden, wie Frauen ohne Behinderungen. Ihr Aufruf an die Leser*innen geht allerdings noch weiter:

„Gleichzeitig müssen wir auch darum kämpfen, dass wir als behinderte Frauen gleiche Möglichkeiten und Rechte wie die Nichtbehinderten bekommen, nicht mehr sonderbehandelt werden.“

Nach wie vor treffend

25 Jahre nach Erscheinen des Buches schreibt die Wissenschaflerin Swantje Köbsell im Tagungsband „Gendering Disability“ 2010 zum Thema der Genderwahrnehmung von Menschen mit Behinderung:

„Liegt eine Beeinträchtigung vor, wird das Merkmal‚ behindert‘ so dominant, dass Geschlecht oftmals kaum oder keine Berücksichtigung findet. (…) In ‚Geschlecht: behindert‘ bringt der Titel eines Buches von behinderten Frauen diesen Sachverhalt nach wie vor treffend auf den Punkt.“

Nicht nur der Titel ist immer noch aktuell, auch an anderen Stellen ist das Buch leider kaum gealtert. Noch heute ist jede zweite bis dritte Frau mit einer Behinderung in Deutschland ein Opfer von sexuellem Missbrauch, während ihnen gleichzeitig ihre Sexualität aberkannt wird. In den Medien gibt es immer noch kaum Rollenbilder für behinderte Mädchen. Das bekannteste Beispiel ist immer noch die Figur der „Clara“ aus der Serie zum gleichnamigen Roman „Heidi“. Sie spiegelt immer noch das Bild, dass Frauen und Mädchen mit Behinderung brav und zurückhaltend sein sollen.                        

Das Schönheitsideal und die Leistungsgesellschaft stellen behinderte Frauen nach wie vor an den Rand der Gesellschaft. Dieser Druck wird von den sozialen Medien wie zum Beispiel Instagram noch verstärkt, da dort alle dauerhaft sichtbar sind. Wer sich dieser Sichtbarkeit entzieht, wird leicht übersehen. Mädchen und Frauen, die sich zeigen, aber nicht den Schönheitsnormen entsprechen, gehen das Risiko ein, beleidigt, beurteilt oder sogar bedroht zu werden.   

Wissenschaftliche Perspektiven

All diese Themen greifen die Wissenschaftler*innen in ihren Beiträgen des Tagungsbandes „Gendering Disability“ im Jahr 2010 wieder auf. Aber schon auf den ersten Blick wird deutlich, dass sich zumindest der Rahmen verändert hat, wie über diese Themen gesprochen wird. 1985 beschrieben Frauen mit Behinderungen ihre Lebenswirklichkeit, 2010 hielten Wissenschafler*innen mit Behinderungen ihre Erkenntnisse und Forschungsergebnisse fest. Menschen mit Behinderung haben ihre Perspektiven professionalisiert. Auch durch die Einführung der Disability Studies konnten behinderte Wissenschafter*innen in den letzten Jahrzehnten Theorien und Modelle entwickeln, die sich belegen oder widerlegen lassen und sich nicht nur auf ihre eigenen Behinderungen beziehen.

Genau wie das erste Buch 1985, geht auch „Gendering Disability“ einen Schritt weiter. Die Beiträge setzen das Thema Behinderung wiederum in einen größeren Kontext. Die Grundaussage lautet vereinfacht: Behinderte Menschen werden nicht nur durch ihre Behinderung diskriminiert. Sie können auch noch – zum Beispiel durch ihr Gender, also der gesellschaftlichen oder biologischen Zuschreibung des Geschlechts, ihre Sexualität, ihre Religion, ihre Herkunft oder ihre Hautfarbe – von Sexismus und Rassismus betroffen sein. Das Konzept der Mehrfachdiskriminierungen auf verschiedenen Ebenen und der intersektionale Ansatz setzt sich in Deutschland in den letzten Jahren erst langsam durch. Auch das Buch „Gendering Disability“ nimmt also eine Vorreiterrolle in der Repräsentation von Menschen mit Behinderungen ein.

Nur ein kleines Puzzleteil im Gesamtbild

1985 stellten sich Frauen mit ihren Behinderungen ganz bewusst und selbstbestimmt in das Licht der Öffentlichkeit. Durch die verbindenden Aspekte der Intersektionalität bleiben sie dort auch stehen, nur das Licht um sie herum weitet sich. Nun stehen behinderte Frauen nicht mehr alleine auf der Bühne, sondern sie sind Teil einer größeren Gruppe an Menschen, die alle auf verschiedenen Ebenen nicht der Norm der Gesellschaft entsprechen. Was im ersten Moment nach einem Rückschritt klingt, ist in Wahrheit ein riesiger Schritt auf dem Weg zur Gleichberechtigung und zur Inklusion.

Aus dieser Perspektive kann die Gesellschaft Menschen mit Behinderungen nicht mehr als „Sonderfälle“ betrachten. „Sonderfälle“, für die ganz eigene Regeln und Wahrnehmungen gelten. Stattdessen sagt die Intersektionalität: Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die sich aus einer einzelnen Perspektive heraus, als behindert beschreiben lassen. Aber diese Kategorie hat alleine keine Aussagekraft. Sie steht gleichwertig mit anderen Zuschreibungen in Verbindung und ist nur ein kleines Puzzleteil im Gesamtbild eines Menschen.

Sichtbar Platz einnehmen 

Diese theoretische Sicht bietet eine große Chance für die inklusive Entwicklung unserer modernen Gesellschaft. Eine praktische Umsetzung der Theorie wäre die vollständige Inklusion. Wann immer sich verschiedene Menschen zu Themen äußern, sollten auch mit Menschen mit Behinderungen sprechen. Sie haben genauso wie alle Mitglieder der Gesellschaft eine Berechtigung, auf allen Ebenen einen sichtbaren Platz einzunehmen: als Single, als (Ehe)-Partner*in oder als Missbrauchsopfer. Als Arbeitnehmer*in, als Arbeitgeber*in oder als erwerbsloser Mensch. Als Wähler*in, als Tänzer*in, als Handwerker*in. Diese Liste ließe sich endlos erweitern.

Fast 35 Jahre nach der Erstveröffentlichung von „Geschlecht: behindert. Besonderes Merkmal: Frau“ stehen wir als Gesellschaft zumindest in der Theorie also endlich an der Schwelle, eine Behinderung nicht länger als ein Faktor zu sehen, der Ausgrenzungen rechtfertigt. Vielmehr zeigen sich Behinderungen immer deutlicher als Zusatzperspektiven, die Menschen mit Behinderungen in verschiedene Bereichen als Expert*innen einbringen können.

Im Alltag sollten Frauen und Mädchen mit Behinderungen ihren Platz innerhalb der Gesellschaft noch mutiger und selbstbewusster einfordern. Auch nach fast 35 Jahren gilt der Aufruf der Herausgeberinnen nach mehr Selbstbestimmtheit. Außerdem ist es wichtig, dass gerade Frauen und Mädchen mit Behinderungen sich gegenseitig unterstützen, um ihre Sichtbarkeit zu erhöhen und Diskriminierungen weiter anzuklagen – frei nach dem Motto: Ihr könnt uns nicht ewig ignorieren. Wir sind hier und wir bleiben hier!

Collage: Leidmedien.de