Gadgets und Apps für blinde Menschen gibt es mittlerweile viele. Die Berichterstattung über diese Hilfsmittel fällt jedoch häufig unkritisch und überschwänglich aus. Heiko Kunert mit einer Einordnung.
Die Hightech-Brille ESight, die Apps Aipoly Vision, Be My Eyes und Seeing AI lassen „Blinde wieder sehen“, die Orcam-Kamera lässt Blinde zumindest „wieder lesen“. Es ist bemerkenswert, dass annähernd derselbe Titel für verschiedene Produkte verwendet wird. Plakative, überspitzte Formulierungen finden sich häufig in der Berichterstattung über Hilfsmittel für blinde Menschen. Dabei geben die Beiträge primär die Sicht der Hersteller wider. Blinde NutzerInnen oder gar unabhängige ExpertInnen mit Behinderung kommen nur selten zu Wort. Sie könnten dazu beitragen, ein realistisches Bild zu zeichnen.
Ein positiv-Beispiel ist ein dpa-Artikel zur akustischen Navigation via Radar-Technik. Hier kommen sowohl die Entwickler, als auch mögliche zukünftige Anwender und ein Experte des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV) zu Wort. Somit finden die Chancen der neuen Technik Eingang in den Bericht, aber auch die Skepsis der Betroffenen. Dpa zitiert Gerhard Renzel vom DBSV. Er meint, dass es essenziell sei, dass das Gehör nicht belastet werde. „Das Gehör ist für sehbeeinträchtigte Menschen das Wichtigste, ohne das ist man aufgeschmissen.“ Auch könne ein Blindenradar nie den Blindenstock ersetzen. Die Radartechnik sei im Grundsatz gut, aber sie werde nur kombiniert funktionieren.
Falscher Hype um Innovationen
Bis heute gibt es das Gadget nicht, das blinde Menschen wieder sehen lässt. Es gibt Hilfsmittel, die den Alltag erleichtern und mehr Teilhabe ermöglichen. Solche Hilfsmittel sind aber schon seit vielen Jahrzehnten vorhanden. Häufig werden Innovationen einfach überhöht. Der Grund: Neue Produkte werden nicht mit den bisher auf dem Markt befindlichen Hilfsmitteln verglichen. Vielmehr wird so getan, als wäre das Gadget das erste Produkt seiner Art. Das ist aber nur selten der Fall. Dies als JournalistIn einschätzen zu können, ist sicherlich nicht immer leicht. Empfehlenswert ist daher eine Recherche bei einem Blinden- und Sehbehindertenverein oder bei Betreibern von spezialisierten Websites wie Technik und Kommunikation für Sehbehinderte und Blinde (TuKSuB).

Nehmen wir das Beispiel der Orcam, die Brille, die „Blinde wieder lesen“ lässt. Das Focus-Video verschweigt, dass ein Großteil der Funktionen nicht neu ist. Blinde Menschen lassen sich seit Jahrzehnten Texte vorlesen – mit Scanner und Sprachausgabe. Auch auf dem Smartphone geht das mit den entsprechenden Apps seit einigen Jahren. Für iPhone und Co. gibt es Anwendungen, die Fotos beschreiben oder Produkte anhand des Barcodes erkennen. Innovativ an der Orcam ist somit vor allem, dass sie klein ist und an der eigenen Brille montiert werden kann. Der/ die NutzerIn hat die Hände frei. Die Headline müsste somit deutlich unspektakulärer ausfallen, bzw. sie müsste das wirklich Neue der Anwendung hervorheben.
Warten nicht auf Wunder-Hilfsmittel
Die meisten blinden Menschen (insbesondere langjährig Betroffene) warten – anders als sich das viele sehende Menschen vorstellen – nicht tagtäglich auf das Wunder-Hilfsmittel, das uns wieder sehen lässt. Wir führen stattdessen ein „normales“ Leben mit unserer Behinderung. Wir nutzen den weißen Stock (das bis heute wohl wichtigste Gadget für mehr Unabhängigkeit), zunehmend häufig das iPhone, das standardmäßig barrierefrei ist. Außerdem haben wir vielleicht noch eine sprechende Uhr, Waage oder ein Farberkennungsgerät.
Selbstverständlich beobachten wir den Hilfsmittel-Markt und schaffen uns hin und wieder ein neues Gadget an, das uns den Alltag erleichtert. Dabei sind die Anforderungen und Bedarfe aber sehr individuell, je nach Lebenssituation und Art der Seheinschränkung: Wer die Brailleschrift kann, interessiert sich vielleicht für die erste Smartwatch mit Blindenschrift. Wer die Brailleschrift nicht gelernt hat (und das ist die Mehrheit der blinden Menschen) setzt eher auf Sprachausgabe oder bei entsprechendem Sehrest auf starke Vergrößerung. Hinzu kommt das Problem der Finanzierbarkeit: So kostet die Orcam rund 4.000 €, die wohl zuverlässigste Text-Erkennungs-App „KNFB Reader“ schlägt mit knapp 100 € zu Buche. Für viele Betroffene sind diese Produkte unerschwinglich. Für einen größeren Personenkreis werden neue Gadgets häufig erst dann zugänglich, wenn sie in den Hilfsmittelkatalog der Krankenkassen aufgenommen werden und in der Folge die Wahrscheinlichkeit einer Kostenübernahme steigt.

Ich persönlich wünsche mir weniger neue Technologien zur Orientierung, sondern dass die vorhandene Technik soweit umgesetzt wird, dass eine zuverlässige Navigation in der Stadt möglich wird. Dabei bin ich als blinder Nutzer auf exakte Angaben angewiesen. Für mich macht es einen Unterschied, ob der Zebrastreifen fünf Meter weiter links ist oder direkt vor mir. Bisher sind Navigationsapps in der Regel nicht so genau. Und am Ende brauchen wir vielleicht auch gar nicht noch mehr neue Technologie. Es wäre schon enorm viel für meinen Alltag gewonnen, wenn es mehr akustische Ansagen an Bahnhöfen, mehr Bücher in Blindenschrift, mehr Zeitungen und Zeitschriften als barrierefreies Ebook und mehr Hörfilme im TV – auch im Privatfernsehen – gäbe.
In der medialen Berichterstattung über Gadgets für blinde Menschen braucht es mehr Differenzierung, weniger Produkt-PR und die Meinung der Zielgruppe. Letztlich sollte diese – wie ein Test von autonom fahrenden Autos in den USA vorbildlich zeigt – bereits in die Produkt-Entwicklung einfließen. Auch dies geschieht viel zu selten, was medial übrigens fast nie hinterfragt wird. Stattdessen überwiegt bei HerstellerInnen und JournalistInnen die sehende Perspektive. Vermutlich spiegelt sich hierin die gesellschaftliche Wirklichkeit: Menschen mit Behinderung sind nur selten Teil von Forscher-Teams, nur selten in der Produkt-Entwicklung und nur selten als Journalistinnen und Journalisten tätig. Die Berichterstattung über Gadgets und Apps für blinde Menschen bietet auch die Möglichkeit, dies kritisch zu hinterfragen.
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Der Autor Heiko Kunert schrieb bereits 2016 auf, wie er als blinder Nutzer die soziale Medien nutzt.
Aufruf: Ihr habt Ideen, wie man die Zugänglichkeit zu digitalen Medien verbessern kann? Zusammen mit Unity Media und dem Impact Hub Berlin haben wir die Digital Imagination Challenge ausgerufen. Bewerbt euch bis zum 26. November mit eure Idee!
Bilder: Michel Arriens | Gesellschaftsbilder.de
Screenshot der Smartwatch: dotincorp.com
Der Autor hat sicher Recht mit seiner Ansicht. Aber das Dramatisieren und Übertreiben von Sachverhalten ist leider mittlerweile zum Quasi-Standard in den meisten Medien geworden. Kaum irgendwo gibt es noch rein sachlich geschriebene Artikel, schon gar nicht über technische Geräte. Dies ist auch bei Hilfsmitteln für Blinde oder Sehbehinderte so.
Allerdings macht sich der Autor selbst auch nicht glaubwürdiger dadurch, dass er fast permanent den Begriff Gadget wiederholt. Ein Gadget ist mehr ein technisches Spielzeug, als weniger ein echtes Hilfsmittel. Wenn also sachlicher und „realistischer“ über Hilfsmittel berichtet werden sollte, dann muss man als Autor mit gutem Beispiel vorangehen und dazu gehört auch das Verwenden der sachlich korrekten Begriffe.
Heiko, der Artikel spricht mir aus dem Herzen. Es wird noch immer viel für uns, jedoch ohne uns entwickelt und entschieden und leider auch umgesetzt. Als potentieller Kunde wären mir hier auch Testberichte von den tatsächlichen Nutzern lieber als reißerische Überschrift wie „App läßt Blinde wieder sehen“.