Eine schonungslose Aufarbeitung mit sich selbst verspricht der Titel der Graphic Novel von Fabien Toulmé. Der Autor und Vater eines Kindes mit Down-Syndrom sieht das anders. Unsere Autorin Judyta Smykowski hat mit ihm gesprochen.

„Dich hatte ich mir anders vorgestellt…“ Was für ein boshafter und ignoranter Satz eines Vaters, der ein Kind mit Behinderung bekommt. „Diskriminierung!“ hört man es schon aus der Ferne rufen. Aber der französische Autor Fabien Toulmé begründet diese erste Reaktion nach der Geburt seiner Tochter in seinem Comic mit dem titelgebenden Ausruf sehr genau.

Die Geschichte basiert auf seiner eigenen Biografie um die Geburt seiner zweiten Tochter Julia. Das Besondere: Die Erzählung ist ungeschönt. Ein Vater zeichnet einen Comic über seine Tochter – man könnte erwarten, dass es zu einer liebeserfüllten Lobhudelei kommt. Tatsächlich ist es eher die Geschichte eines Vaters, der die Liebe für seine eigene Tochter erst noch entwickeln muss, weil sie nicht so ist, wie er sie sich vorgestellt hatte. Toulmé bricht mit seiner Erzählung ein Tabu. Gezeichnet hat er das Buch, als seine Tochter drei Jahre alt war. Es war keine Therapie für ihn, es soll der Gesellschaft keine tiefsinnige Botschaft überbringen. Es sei einfach die Geschichte seines Kindes. Die Geschichte markiert seinen Durchbruch als Zeichner, davor arbeitete er als Ingenieur.

„Vielleicht, weil es eine sehr sichtbare Behinderung ist“

Bei Beginn der Geschichte ist Fabien noch ein kleiner Junge. Er erlebt, wie seine Freunde Menschen mit Down-Syndrom hänseln. Das Wort „Mongo“ benutzt Toulmé dabei in seiner Novel bewusst, weil Menschen, die den „korrekten“ Ausdruck der Behinderung nicht kennen, seiner Meinung nach das andere Wort nun mal gebrauchen würden. Authentizität war Toulmé, der 1980 in Frankreich geboren wurde, beim Zeichnen wichtig. Unterbewusst entwickelte er als junger Mensch eine (Berührungs-) Angst vor der Trisomie. Er wisse nicht genau, warum das so war. „Vielleicht, weil es eine sehr sichtbare Behinderung ist.“

Die einzelnen Abschnitte seines Lebens sind in verschiedenen Farben gehalten. Blau, Grün, Rot. Die Erzählperspektive ist seine, wobei der Leser nicht im Kopf des Protagonisten gefangen ist. Er kann durchaus die gesamte Lage überblicken. Im Comic reißt Toulmé die gängigen Voruntersuchungen während der Schwangerschaft an. Bei seiner Tochter wird nichts festgestellt. Auf dem Spielplatz sieht er Kinder mit Down-Syndrom und fragt sich, warum es diese Kinder trotz der Tests, die man in der Schwangerschaft machen kann, noch gibt. Zu diesem Zeitpunkt ist seine Frau im 6. Monat schwanger.

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Von der Berührungsangst zur ehrlichen Liebe

Seine Tochter Julia wird geboren. Ihr Vater kann sie zunächst nicht annehmen. Auch versteht er nicht, warum die Ärzte einige Zeit brauchen, um die Diagnose „Down-Syndrom“ auszusprechen. Im Nachhinein vermutet er, die Ärzte hätten ihn und seine Frau behutsam an das Thema ranführen wollen. Aber sicher ist er sich nicht. Nach der Geburt hat Toulmé Berührungsängste, kann nur schwer eine emotionale Bindung zu Julia aufbauen. Erst die Gespräche mit anderen Eltern, die ebenfalls ein Kind mit dem Down-Syndrom haben, stoßen bei ihm eine Annäherung zu seiner Tochter an. Ebenfalls wichtig und interessant ist die Perspektive seiner Ehefrau in der Geschichte. Sie macht ihrem Mann keine Vorwürfe, zwingt ihm den Umgang mit der Tochter nicht auf. Sie gibt ihm die Zeit, die er braucht.

Wie wäre es wohl, wenn seine Tochter Julia den Comic einmal lesen würde? Würde sie verletzt sein, traurig oder verständnisvoll reagieren? Es würde wohl eine Mischung aus allem sein. Toulmé ist da in einer gewissen Weise egoistisch. Er möchte seine Sicht der Dinge schildern, ohne Rücksicht. Mit dieser Entscheidung hilft er anderen Eltern in einer ähnlichen Situation. Er hat den Comic nicht für Menschen mit Trisomie gezeichnet hat, sondern eher für Angehörige und Dritte, die „damit fertig werden müssen“.

Toulmé bezeichnet sich heute nicht als Experte für das Down-Syndrom. Auch über die aktuelle Situation der Menschen mit Down-Syndrom in der französischen Gesellschaft maßt er sich kein Urteil an. Für ihn zählt, wie für jeden anderen Vater auch, dass es seiner Tochter gut geht. Er sagt, viele Leser hätten sich erkundigt, wie es Julia mittlerweile gehe. Sie ist heute sechs Jahre alt und geht in die Vorschule. Sie entwickle sich gut. Die ältere Schwester Louise habe zwar ein paar Mal gefragt, warum Julia das Down-Syndrom hat und warum sie nicht wie alle anderen auf die Welt kam. Doch mittlerweile ist sie der Meinung, Julia wäre ohne die Trisomie nicht ihre Schwester Julia.

„Dich hatte ich mir anders vorgestellt…“

Avant Verlag

Aus dem Französischen von Annika Wisniewski

248 Seiten

25,95 Euro