Wieviel Inklusion und Barrierefreiheit steckt im Bundestagswahlkampf 2017? Wir haben uns die Werbespots und Angebote an Barrierefreiheit, sowie Initiativen von Verbänden und Medienberichte über Inklusion im Wahlkampf angeschaut.

Wahlomat zum Thema Inklusion

Um einen ersten Eindruck zu bekommen, ob die eigenen Interessen in den Wahlprogrammen auftauchen, nutzen viele den Wahl-O-Mat. Zum Thema Inklusion gab’s da aber nichts zu finden.

Wahlwerbespots und behinderte Menschen

Dass Kinder die Zukunft sind, haben die Agenturen von CDU (Jung von Matt), SPD (KNSK), Grüne (ZBA) und Linke (DiG/Trialon) kapiert. Dass das Thema Vielfalt auch wichtig ist, zeigt der CDU-Spot mit einer Frau im technischen Beruf und Jugendlichen mit Migrationsgeschichte. Auch die SPD zeigt Kinder mit verschiedenen Hintergründen und betont das gerechte Teilen, egal ob Mädchen oder Junge, und woher man kommt. Geflüchtete Menschen kommen natürlich auch im AfD-Spot (Kunkelbakker Creative Consultants) vor, aber in welchem Kontext ist klar (Bedrohung). Die Grünen zeigen neben Geflüchteten im Boot und dem Text “Integration Chancen für alle” im Abspann kurz noch ein Bild von einem homosexuellen Paar.

Doch behinderte Menschen kommen nur in einem einzigen Werbespot vor, der CDU. Dort ist der Kontext jedoch ein Klischee: eine junge Frau im Rollstuhl, alleine (mit Hund), im Hintergrund der gesprochene Text “Ein Land, dass Leute im Alter und bei Krankheit nicht alleine lässt.” Behinderung als etwas, das Leute wieder mit alleinsein, kranksein und altsein verbinden. Hätten bei den vielen Kinder- und Familienbildern auch Kinder mit Behinderung gepasst? Nur für die Vollständigkeit: bei FDP und die PARTEI sehen und hören wir nur weiße, mittelalte Männer.

Wahlprogramme und Thema Inklusion

Da das Thema Inklusion und Barrierefreiheit im Wahlkampf bisher nicht stattfand, haben mehrere Initiativen von behinderten Menschen untersucht, inwieweit die Wahlprogramme der Parteien auf die Belange behinderter Menschen eingehen. Das Netzwerk Ability Watch befragte die Parteien zu ihrer Programmatik für Menschen mit Behinderungen und fertigte eine Grafik an. Was die roten und grünen Daumen genau bedeuten, lest ihr hier. Denn einige Daumen, wie beim Zwangspoolen, sind missverständlich (die CDU und SPD sind dafür und Grüne und Linken dagegen).

Ein Klassenzimmer mit Schüler*innen ist zu sehen. Die Kinder sind von hinten und nur verschwommen zu sehen, im Vordergrund steht das Wort Inklusion.

Auch der Sozialpolitische Ausschuss des Bundesverbands Selbsthilfe Körperbehinderter (BSK) hat zusammengetragen, was die einzelnen Parteien in Sachen barrierefreies Bauen und Mobilität, Hilfsmittelversorgung und qualifizierte Arbeit für Menschen mit Behinderung versprechen. Hier geht’s direkt zu den Antworten der Parteien (PDF). Außerdem haben sie alle Wahlprogramme der Parteien nach bestimmten Suchbegriffen durchgeschaut und als Grafik veranschaulicht:

Medienberichte: Inklusion in Schulen im Wahlkampf

Das Brandeins-Magazin veröffentlichte Infos in Leichter Sprache vom Netzwerk Leichte Sprache über das, was die Parteien zum Thema Inklusion und Schule meinen, von SPD, CDU, Die Grünen, FDP, Die Linke bis zur AfD.

Medienberichte: Wahlrechtsausschlüsse von behinderten Menschen

Die Parteien bieten ihre Wahlprogramme zwar in Leichter Sprache an, haben aber nicht berücksichtigt, dass bis zu 85.000 Menschen mit Lernschwierigkeiten trotzdem von der Bundestagswahl ausgeschlossen bleiben. Mehrere Medien berichteten über den Wahlrechtsausschluss:

Tagesschau: „Julian Peters aus Viersen ist 29 Jahre alt – daher würde man seinem Politikverständnis normalerweise nicht besondere Beachtung schenken. Aber bei ihm ist manches nicht normal. Denn obwohl er erwachsen ist und sich für Politik interessiert, darf er nicht wählen.“

Berliner Zeitung: „Pascal ist sprachbehindert und hat Lernschwierigkeiten, ist aber politisch sehr interessiert. Pascal erkennt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Sigmar Gabriel (SPD) auf Fotos. Er kennt CDU, SPD, Grüne, Linke und FDP und kann sie auseinanderhalten. Doch der junge Mann Anfang 20 gehört zu jenen Menschen mit Behinderung, die in allen Angelegenheiten betreut werden. Pascal durfte im Mai an der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen teilnehmen, an der Bundestagswahl am 24. September 2017 darf er das nicht.“

„Menschen – das Magazin“ (ZDF): „Oskar hat das Down-Syndrom. Er ist jetzt 18 Jahre alt und möchte auch wählen gehen, war mit seiner Mutter bereits auf einer Wahlvorbereitungs-Veranstaltung für Menschen mit geistigen Einschränkungen. Aber weil ein Gutachter der Betreuungsbehörde Oskar „Betreuung in allen Angelegenheiten“ attestiert, hat er automatisch kein Wahlrecht auf Bundesebene. Seine Eltern stellen diese gängige Verfahrensweise beim Betreuungsgutachten in Frage. Es stellt sich heraus, dass es auf die passende Formulierung ankommt, ob Oskar wählen darf oder nicht. Das Amtsgericht hat jetzt zugunsten von Oskar entschieden. Ein Fall, der Schule machen könnte.“

Deutschlandfunk: „Anders sieht es in Ländern wie Österreich, den Niederlanden und weiteren zwölf EU-Staaten aus. Dort existieren keine pauschalen Wahlausschlüsse. Auch hierzulande läuft aktuell eine Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht, über die noch in diesem Jahr entschieden werden soll.“

 

Menschen mit Behinderung über Bundestagswahl

Der Aktivist Christian Specht ärgert sich, dass so viele Menschen mit Behinderung von der Bundestagswahl ausgeschlossen sind und drückt es bei der taz in Leichter Sprache aus.

Sozialhelden-Gründer Raúl Krauthausen fordert ein Ende der Wahlrechtsausschlüsse in Artikeln bei Xing und der Frankfurter Rundschau. 

Außerdem tourte Raúl durch Deutschland und befragte Wähler*innen und Nicht-Wähler*innen, politisch Engagierte und Desinteressierte in seiner Sendung re:sponsive im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung. Der Zeitung Der Freitag gab er zu der Sendung ein Interview.

Moderatorin Ninia LaGrande schrieb bei Refinery29 über das TV-Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz, und warum keiner der beiden Kandidaten ihre Interessen als 30jährige Mutter vertritt.

Aktivistin Anne Gersdorff sprach vom Netzwerk für betriebliche Integration und Sozialforschung e.V. über die hohe Arbeitslosenquote unter behinderten Menschen und die Mängel des Bundesteilhabegesetzes (detektor.fm).

In der mit Angela Merkel stellte die Journalistin Natalie Dedreux vom Magazin eine Frage zum Thema Spätabbruch bei Kindern mit Downsyndrom (hier der Text zum Video), was viele Medien aufgriffen (Tagesschau, Bild, Express, Spiegel):

Barrierefreie Wahllokale und Briefwahl:

Wie das Grimmelab zusammengetragen hat, stellt das Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit „Informationen zur Gestaltung von barrierefreien Wahlräumen und zum Umgang der Wahlhelfer mit Menschen mit Behinderung“ zur Verfügung.

Da es noch immer nicht selbstverständlich ist, fordert Campaigner Michel Arriens barrierefreie Wahllokale für alle und auch im Wahlkampf Vorschläge für inklusive Politik (Artikel bei zett).

Wer am Wahltag keine Zeit (und Lust) hat zu wählen, kann dies im vorhinein über Briefwahl machen. Hier ein paar Tweets von Leuten mit Behinderung, die sich daran beteiligen:

Barrierefreiheit bei der Bundestagswahl

 

Blinde Menschen

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband gibt Infos zur Bundestagswahl für blinde und sehbehinderte Menschen und Hinweise über den Erhalt und die Verwendung von Wahlschablonen. Der Politikexpress gab Infos für sehbehinderte und blinde Menschen, die wählen möchten.

Leichte Sprache bei der Wahl

Die Übersetzung der Wahlprogramme in Leichter Sprache war bei der letzten Bundestagswahl schon vorhanden (wir berichteten).

Dieses Mal gibt es Informationen rund um die Bundestagswahl in Einfacher Sprache bzw. Leichter Sprache bei der Lebenshilfe, der Bundeszentrale für politische Bildung sowie auf der Seite „Bundestagwahl-Leicht.de“. Auch das neue Angebot taz-leicht.de der taz bringt Infos in Leichter Sprache, z.B. ein Wörterbuch mit wichtigen Begriffen rund um die Bundestagswahl.

Auch das Portal Einfach-Heidelberg.de gibt viele Informationen zur Bundestagswahl in Leichter Sprache wie die Parteiprogramme in Leichter Sprache und wie die Briefwahl funktioniert. Darüber hinaus tragen die Politiker*innen in Heidelberg ihre Wahlversprechen in einem Video in Leichter Sprache vor!

Gebärdensprache in der Bundestagswahl

Die Deutsche Gehörlosenzeitung hat alle Videos in Gebärdensprache, die die Parteien zu ihren Parteiprogrammen rausbrachten, zusammengestellt. Außerdem wurde das TV-Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz auch in Gebärdensprache ausgestrahlt (Phoenix), daneben mit Untertiteln in ARD, ZDF, RTL und SAT.1.

Auch neue Parteien wie „Demokratie in Bewegung“ bieten ihr Wahlprogramm in Gebärdensprache und Einfacher Sprache sowie in Englisch an. Sie wollen sich auch für Inklusion und Barrierefreiheit einsetzen, sowie für eine Vielfalts-Quote.

Wie diese Zusammenstellung zeigt, brauchen wir noch viel mehr Sensibilisierung für die Belange behinderter Menschen, sowohl inhaltlich in den Parteiprogrammen, als auch in den Diskussionen im Wahlkampf und den Wahlwerbespots.

Titelbild: Ankett-Aktion vor dem Bundestag für ein gutes Teilhabegesetz und gegen Barrieren | Andi Weiland, Gesellschaftsbilder.de