Wie inklusiv ist das deutsche Schulsystem seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009? Andrea Schöne fasst politische Entwicklungen und die Berichterstattung darüber zusammen und zeigt Eindrücke vom Fachkongress „Eine Schule für alle – Inklusion schaffen wir“.

Inklusion im deutschen Schulsystem kam zum ersten Mal durch die UN-Behindertenrechtskonvention (2009) in der breiten Öffentlichkeit zur Sprache. Seitdem gibt es verschiedene Definitionen was inklusive Bildung bedeutet. Nach der UN-Behindertenrechtskonvention bedeutet sie, dass kein paralleles Schulsystem, also Förderschule und Regelschule, neben einander existieren darf. Kinder mit und ohne Behinderung sollen gemeinsam lernen.

Mein Kleinwuchs war im Kindergartenalter kein großes Gesprächsthema und niemand stellte infrage, dass ich mit allen anderen Kindern ohne Behinderung den gleichen Kindergarten besuchte. Meine ersten beiden Schuljahre verliefen ohne Probleme bis ich in der dritten Klasse in einem Klassenzimmer im ersten Stock unterrichtet werden sollte und es keinen Aufzug gab.

Bei einer Schulkonferenz stand im Gespräch, dass ich an einer Förderschule besser aufgehoben wäre und ohnehin höchstens den Hauptschulabschluss schaffen würde. Heute studiere ich sehr erfolgreich. Man wollte mich an die Förderschule abschieben, ein gesetzliches Recht auf eine Regelschule zu gehen gab es damals noch nicht. Letztendlich blieb ich an meiner Grundschule und verlor auch nicht den Rückhalt der Eltern anderer Schüler*innen an meiner Grundschule und hatte weiterhin viele Freunde. Am Gymnasium wurde Barrierefreiheit erneut zu meinem Problem. Daher wechselte ich am Ende an ein anderes Gymnasium in der Nachbarstadt, ungefähr 40 Kilometer entfernt. In meiner Heimatstadt konnte mich keine andere Schule aufnehmen.

Bremen ist Vorreiter, Hessen das Schlusslicht

Bildung ist in Deutschland Ländersache. Das heißt, es ist Aufgabe der 16 Bundesländer in ihrem jeweiligen Bundesland das inklusive Schulsystem zu schaffen. Nach dem Stand 2014/2015 liegt der Inklusionsanteil der Gesamtzahl der Kinder mit Förderbedarf bei 34,1%. Die Zahl unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland enorm. Bremen ist mit 77,1%  Vorreiter, Hessen mit 23,1% das Schlusslicht.

Zu sehen ist eine Deutschlandkarte mit Prozentzahlen zur inklusiven Beschulung von Schüler*innen.

Zu der Inklusionsquote werden alle Schüler*innen mit Förderbedarf gezählt, die an einer Regelschule unterrichtet werden. Die Inklusionsquoten an den Regelschulen steigen an, dennoch sinkt die Anzahl der Schüler*innen, die an Förderschulen unterrichtet werden laut der Bertelsmann-Stiftung kaum. Zu der Exklusionsrate werden alle Schüler*innen mit Förderbedarf gezählt, die an einer Förderschule unterrichtet werden. Die Exklusionsrate ist laut der Friedrich Ebert-Stiftung vom Schuljahr 2008/09 von 4,9% bis zum Schuljahr 2015/16 auf 4,4% um 0,5% gesunken.

Gleichzeitig wird bei immer mehr Kindern ein besonderer Förderbedarf festgestellt, daher steigt die Inklusionsquote. Dies sind beispielsweise hochbegabte oder unruhige Kinder. Kritiker bezeichnen diesen Vorgang als „Etikettierung von Inklusion“, da die Kinder auch bereits zuvor stets im Regelschulsystem unterrichtet wurden. Nun wird ihnen ein besonderer Förderbedarf bescheinigt, was vorher nicht der Fall war. Damit steigt die Inklusionsrate an den Schulen, ohne dass Schüler*innen aus Förderschulen nun in Regelschulen unterrichtet werden.

Inklusive Bildung als Menschenrecht

Die UN-Behindertenrechtskonvention hat das Recht auf Bildung als Menschenrecht noch einmal genauer beschrieben. In Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte steht: „Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung.“ Durch Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention haben alle Menschen ein Recht auf inklusive Bildung. 2015 wurde die Bundesrepublik Deutschland für ihre Versäumnisse beim Ausbau des inklusiven Schulsystems vom UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen stark gerügt. Förderschulen müssen systematisch abgebaut werden und die finanziellen und personellen Ressourcen in ein inklusives Schulsystem investiert werden. Die Monitoring-Stelle im Deutschen Institut für Menschenrechte steht beratend und begleitend zur Seite. Über das Recht auf inklusive Bildung gab sie 2016 einen General Comment heraus. Dieser soll die Umsetzung des inklusiven Schulsystems unterstützen, vorantreiben und aufzeigen, wo sich noch etwas verändern muss.

 

Schulische Inklusion im Wahlkampf

Im Bundestagswahlkampf kam Inklusion und auch inklusive Bildung nicht zur Sprache (wir berichteten). Die Partei die Linke, die SPD und Bündnis 90/ Die Grünen sprachen sich in ihrem Wahlprogramm für das inklusive Schulsystem aus. Die Union äußerte sich in ihrem Wahlkampfprogramm nicht zur schulischen Inklusion. Die FDP und die AfD dagegen.

Im Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen war die schulische Inklusion dagegen ein zentrales Thema. Die rot-grüne Landesregierung wurde abgewählt. Im Deutschlandfunk sprach Yvonne Gebauer (FDP), die neue Schulministerin von Nordrhein-Westfalen, über ihre Pläne zur Entwicklung des inklusiven Schulsystems. Sie wirft der Vorgängerregierung große Versäumnisse vor. Das Tempo sei zu schnell gewesen, darunter habe die Qualität des Unterrichts gelitten. In der begonnenen Legislaturperiode sollen Förderschulen nicht mehr geschlossen werden und eine Bestandsaufnahme von allen vorhandenen Ressourcen für die inklusive Bildung erstellt werden.

Auch in Niedersachen führte die Umsetzung eines inklusiven Schulsystems zu enormen Debatten. Kurz vor den Landtagswahlen in Niedersachsen äußerte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Inklusion im Schulsystem. Sie sprach sich gegen die Schließung von weiteren Förderschulen aus.

Bei Twitter wurden die Äußerungen der Bundeskanzlerin kritisiert:

Inklusion an Grundschulen in der Kritik

Kritisiert wird vor allem die schlechte Vorbereitung der Lehrkräfte auf die Vielfalt der Schüler*innen, darunter auch Kinder mit Behinderung. Die Schulen benötigen mehr Unterstützung, die Inklusion wäre übereilt umgesetzt worden, wie die Welt über die Ursachen in Baden-Württemberg berichtete. Schüler*innen aus Baden-Württemberg schnitten in den Leistungstests im Vergleich der Ergebnisse der letzten Jahre besonders schlecht ab. Der Spiegel berichtete, dass der Besuch der Schulart einen entscheidenden Einfluss auf die Leistungen der Schüler*innen hätte:

 „Förderschüler, die dem Inklusionsgedanken folgend eine reguläre Grundschule besuchten, schnitten durchschnittlich besser ab als Viertklässler an Förderschulen. Die Kinder an den Förderschulen waren aber motivierter als die Förderschüler an den Grundschulen.“

Fachkongress von mittendrin e.V. in Köln über schulische Inklusion

Um sich mit den Entwicklungen im Bereich Inklusion in der Schule kritisch auseinanderzusetzen, rief der mittendrin e.V. aus Köln vom 8. bis 10. September zum Fachkongress „Eine Schule für alle – Inklusion schaffen wir“ durch. Der Verein wurde von Eltern gegründet, die ein Kind mit Behinderung haben. Im Mittelpunkt des Kongresses stand die schulische Inklusion für alle Kinder und deren Freizeitgestaltung. Die taz berichtete im Vorfeld, dass Bundesbildungsministerin Wanka nicht der Einladung nachkam, an einer Podiumsdiskussion über die Weiterentwicklung des inklusiven Schulsystems in Deutschland zu diskutieren. Es kam auch kein*e Vertreter*in.

Zentrale Forderungen auf dem Fachkongress an die Politik waren:

  • personelle und finanzielle Ressourcen bereitzustellen
  • eine verbesserte Weiterbildung für Lehrkräfte
  • Menschen mit Behinderung und Eltern müssen mehr in den Prozess miteinbezogen werden

Ohne politischen Willen zur Umsetzung geht die Entwicklung zu einem inklusiven Schulsystem nicht voran. Zahlreiche Workshops gaben Einblicke, wie Inklusion in der Didaktik aussehen kann. Eine ZuP-Lehrkraft aus Bremen erzählte von ihren Erfahrungen beim Unterrichten von Kindern mit und ohne Behinderung in der Regelschule. Eine ZuP-Lehrkraft ist Teil des Zentrums für unterstützende Pädagogik, welches ein integrativer Teil der Schulen oder eines Schulverbundes sind. Sie sind Teil der Schulleitung, unterrichten aber auch an der Schule. Sie sichern bei der Umsetzung des inklusiven Unterrichts den Erhalt der Fachlichkeit für die Förderung aller Schüler*innen und den Einsatz der benötigten Ressourcen.

Der Blick ins Ausland zeigt, dass andere Länder bereits viel weiter sind. Prof. Dr. Kerstin Merz-Atalik leitete das Comenius-Projekt „Tdivers“. In sechs verschiedenen europäischen Ländern wurden Schulen besucht, um für Lehramtsstudierende Material zur Frage zusammenzustellen, wie guter inklusiver Unterricht aussehen kann. Pablo Pineda ist der erste Mensch mit Down-Syndrom, der studiert hat und hielt per Video-Live-Schaltung eine Rede über den Wert von inklusiver Bildung. Für Pablo Pineda bedeutet Inklusion eine Gesellschaft, die Vielfalt als normal und Bestandteil einer Gesellschaft und zum Menschsein ansieht.

Die Web-Reportage des mittendrin e.V. bietet weitere Informationen über den Fachkongress.

Fazit: Der Weg zu einem inklusiven Schulsystem in Deutschland ist noch steinig. Ohne eine inklusive Haltung aus der Politik und Gesellschaft wird es nicht funktionieren. Viele andere Länder in Europa sind im Prozess, ein inklusives Schulsystem zu schaffen, bereits viel weiter.

Bildquellen:

Grafik Inklusion in Deutschland: Aktion Mensch
Bilder der Schuler*innen: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de