Wie begrüße ich einen Mann ohne Arme? Wird mich eine gehörlose Frau verstehen? Und wie unterhalte ich mich jetzt mit einem Interviewpartner, der Trisomie 21 („Downsyndrom“) hat? Der Journalist Jens Brehl schreibt von seinen Berührungsängsten und Erfahrungen im Interview mit einer jungen Frau mit Muskelerkrankung und möchte andere Medienschaffende ermutigen auch mal „in Kontakt zu treten“.

Über einen Fernsehbericht werde ich im Frühjahr 2012 auf Maria Langstroff aufmerksam. Seit kurzem ist ihr Buch „Mundtot!? – Wie ich lernte, meine Stimme zu erheben – eine sterbenskranke junge Frau erzählt“ erhältlich. Die damals 26jährige Studentin ist nahezu vollständig gelähmt und bettlägerig, lediglich ihren Kopf und ihren rechten Arm kann sie noch bewegen. Wenige Wochen zuvor ist sie fast erblindet und muss dennoch eine Sonnenbrille tragen: Grelles Licht löst bei der jungen Frau Muskelkrämpfe aus. Ich möchte Maria kennen lernen und vereinbare einen Interviewtermin. Auf unser Gespräch bereite ich mich gründlich vor, lese Marias Buch, spreche mit dem Verlag. Doch als es soweit ist, spüre ich meine eigenen Berührungsängste behinderten Menschen gegenüber, denn zum ersten Mal habe ich beruflich mit dem Thema zu tun.

Zehn Minuten vor der vereinbarten Uhrzeit klopfe ich an Marias Tür im Gießener Pflegeheim und bin auf einmal schrecklich nervös. Die Redakteurin vom Magazin Publik Forum konnte ich von einem Beitrag über Marias Geschichte begeistern, deswegen bin ich heute hier. Das Interview habe ich in den letzten Tagen gut vorbereitet und mir auch schon in etwa die für mich ungewohnte Gesprächssituation vorgestellt. Doch nun steigen in meinem Inneren Ängste hoch, von denen ich vorher nichts geahnt habe. Mich beherrscht nur noch eine Frage: Wie verhalte ich mich richtig?

Zögernd betrete ich das Zimmer und als ich die Tür schließe, umhüllt mich die Dunkelheit. Die Vorhänge sind zugezogen, damit kein Licht in den Raum dringt. Automatisch beginne ich zu flüstern und begrüße Maria schüchtern. Ganz so, als könnten zu laute Geräusche der jungen Frau schaden. Ich ärgere mich über mein unbewusstes Verhalten. Eine überraschend klare Stimme bittet mich näher zu treten. Als ich neben Marias Bett stehe, stelle mich vor. Maria fragt nach meinem Alter, da ich „jung“ klingen würde. Tatsächlich bin ich nur wenige Jahre älter. Krampfhaft versuche ich nichts Falsches zu sagen, als es auch schon zu spät ist.

Voll in den Fettnapf ?

Wir möchten mit dem Interview beginnen, doch damit habe ich zunächst ein Problem. Es ist schlicht zu dunkel, als dass ich die auf meinem Block notierten Fragen lesen kann. Maria schlägt vor, im Badezimmer das Licht einzuschalten und die Tür einen Spalt offen stehen zu lassen. Nun kann ich meine Schrift entziffern. Meine noch vorhandene Nervosität möchte ich mit einem lockeren Spruch überspielen. Seit einigen Tagen bin ich Brillenträger, wobei ich schon über ein Jahr zuvor gewusst habe, dass ich dringend eine Sehhilfe benötige. „Ohne meine Brille bin ich blind wie ein Maulwurf“, sprudelt es aus mir heraus. Oh Gott, habe ich das jetzt wirklich gesagt? Vor Scham würde ich am liebsten im Boden versinken, denn der Spruch war mehr als daneben. Maria nimmt es gelassener als ich.

In den nächsten Stunden wird sie mir ihre Geschichte erzählen. Mich interessiert besonders, wie sie sich in ihrer neuen Lebenssituation zurecht fand. Als sie noch im Rollstuhl saß spürte die junge Frau, wie sie sich plötzlich in vielen Situationen am Rande der Gesellschaft wieder fand. Auch über den Verlauf ihrer seltenen Muskelkrankheit reden wir. Trotz des ernsten Themas lachen wir aber oft. Wir lassen uns sogar ein Eis schmecken, welches ich nebenan aus der Eisdiele hole. Für Maria könnte sie ebenso gut auf dem Mond sein. Gerade Marias ungezwungene Art lässt mich langsam auftauen. Meine sämtlichen Berührungsängste waren unnötig, ebenso gut hätte ich von Anfang locker bleiben und meine Fragen stellen können. Maria ist eine erwachsene Frau, kein kleines Kind und erst recht kein rohes Ei.

Der jungen Frau gelang es, Frieden mit sich, ihrem Körper und ihrem Schicksal zu schließen. Anstatt ihren Verlusten nachzutrauern, konzentriert sie sich auf das, was ihr geblieben ist. Ihre Familie, Freunde und die Möglichkeit sich mitzuteilen. Bis dahin war es jedoch ein langer Weg. „Ich vertraue auf Gott, dass alles richtig ist, so wie es ist. Ich bin glücklich mit meinem Leben, das in den Augen der meisten Menschen als nicht lebenswert erscheint“, sagt Maria.

Mein persönliches Fazit 

Das Interview mit Maria war auf vielen Ebenen ein Gewinn und für mich persönlich mehr als ein weiterer veröffentlichter Artikel. Ich habe gelernt, in meinem Alltag öfter Dankbarkeit einfließen zu lassen. Wenige Jahre zuvor erkrankte ich selber schwer und ich möchte so bald wie möglich wieder „voll da sein“. Dabei konzentriere ich mich jedoch häufig auf Dinge, die scheinbar noch fehlen, anstatt auch die kleinen Fortschritte zu feiern.

Aus beruflicher und heutiger Sicht hätte ich mir besser vor dem Interview mit Maria von einem Kollegen, der im Umgang mit behinderten Interviewpartnern erfahren ist, ein paar Tipps eingeholt. Leidmedien und dessen Interviewtipps kannte ich damals auch noch nicht. Dennoch bin ich froh, dass sich meine Vorbehalte so deutlich gezeigt haben. Man kann sich eben nicht auf alles im Leben theoretisch vorbereiten, sondern lernt in der Praxis. Wie man Berührungsängste abbaut? Indem man in Kontakt tritt.

Titelbild: Anton Hornig (muhacka) / www.jugendfotos.de, „Neuwerk I“ (by-nc)