Katrin Langensiepen ist eine der ersten Politiker*innen mit einer sichtbaren Behinderung, welche im Mai 2019 ins Europaparlament gewählt wurde. Im Interview mit Laura Mench erzählt sie, was es für die Europapolitik bedeutet, wenn auch Menschen mit Behinderung im Europaparlament vertreten sind.

Leidmedien.de: Sie wurden ins Europaparlament gewählt, herzlichen Glückwunsch! Gibt es spezielle Anliegen, die Sie als Abgeordnete einbringen möchten?

Katrin Langensiepen: Es ist ein großes Zeichen und ein großer Schritt, dass ich als erste Frau mit sichtbarer Behinderung ins Europaparlament gewählt wurde. Es ist wichtig, dass Menschen mit Behinderung in die Parlamente gewählt werden und dass nicht über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Ich bin dankbar für diesen Rückhalt. Ich habe mich für die Durchsetzung der 5. Antidiskriminierungsrichtlinie eingesetzt, die auf der EU-Ebene vor zehn Jahren beschlossen wurde. In der Umsetzung hat die Bundesregierung allerdings große Probleme mit diesen Richtlinien. Mein allgemeines Ziel ist es, diese Versäumnisse noch einmal öffentlich zu machen, um wieder Bewegung in diese Thematik hinein zu bekommen.

Leidmedien.de: Im Interview mit der „Neuen Presse“ vom 13.5.2019 sprachen Sie davon, die EU stärker in Richtung Sozialunion verändern zu wollen. Wie sehen denn die Perspektiven für einen Menschen mit Behinderung in Ihrer Vorstellung einer Sozialunion aus?

Katrin Langensiepen: Wir müssen neben der EU-Wirtschaftsunion auch hin zu einer Sozialunion. Das heißt, wir müssen Standards schaffen, wie den europäischen Mindestlohn. Dieser beträgt ca. 60 % des Durchschnittslohns. In Deutschland wären das ungefähr zwölf Euro. Eine europäische Arbeitslosenversicherung wäre ebenfalls Teil der Standards. Wenn die Bundesebene diesbezüglich nichts tut, muss die EU die Vorgaben machen.

Leidmedien.de: Sehen Sie auch positive Entwicklungen?

Katrin Langensiepen: Positiv ist, dass Menschen mit Behinderung endlich das Wahlrecht bekommen haben. Ich bin eine große Freundin des bedingungslosen Grundeinkommens. Natürlich gibt es dazu auch kritische Stimmen selbst von Seiten der Menschen mit Behinderung. Ich finde, das bedingungslose Grundeinkommen muss mit anderen Zuschüssen und sozialen Geldern kombiniert werden. Das Geld ist nämlich da. Ein europäischer Mindestlohn wäre ein guter Anfang. Ich hoffe mit meiner Wahl ins Europaparlament den Menschen mit Behinderung eine Stimme geben zu können und auf Missstände aufmerksam zu machen, außerdem ist Aufklärungsarbeit und die Anregung zum Austausch sehr wichtig.

Katrin Langensiepen wurde 1979 in Langenhagen (Region Hannover) geboren. Nach ihrem Abitur studierte sie zunächst in den Niederlanden, ehe sie 2009 eine Ausbildung zur Fremdsprachenassistentin absolvierte.

Der Partei Bündnis 90/Die Grünen trat sie 2010 bei und wurde im folgenden Jahr in den Stadtrat von Hannover gewählt, wo sie sozialpolitische Sprecherin der Grünen war. Über Platz 9 der Europaliste der Grünen wurde Langensiepen 2019 in das Europaparlament gewählt.

Leidmedien.de: Welchen Einfluss kann die Europapolitik auf die Inklusion in Deutschland nehmen?

Katrin Langensiepen: Ich werde unermüdlich meine Forderungen zur Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinie in die Diskussion einbringen, entsprechende Vereine und Verbände im Zuge meiner Möglichkeiten vorstellen und in die Entwicklungen soweit es mir möglich ist integrieren. Außerdem werde ich den europäischen Schwerbehindertenausweis und den weiteren barrierefreien Ausbau von öffentlichen Einrichtungen, Freizeitaktivitäten und Bildungshäusern fordern und fördern. Finanziell ist das Ganze kein Problem, durch den europäischen Sozialfont (ESF). 

Leidmedien.de: Hat Ihre Behinderung einen Einfluss auf Ihre Art, Politik zu machen? 

Katrin Langensiepen: Ja. Mit 30 Jahren bin ich Bündnis 90/die Grünen beigetreten und in den Stadtrat gewählt worden. Behinderung ist ein großes, aber nicht mein einziges Thema. Ich möchte für andere Menschen mit Behinderung eine Stimme sein. Durch meine eigenen Erfahrungen kann ich Betroffene verstehen und die Anliegen treffend in die politischen Abläufe einbringen. In meinem politischen Umfeld wurde ich bisher immer respektvoll behandelt. Ich hoffe, dass dies sich auch im Europaparlament weiter so verhält. Trotzdem muss auch hier weiter Aufklärungsarbeit geleistet werden, gerade bei nicht sichtbaren Behinderungen. Es reicht nicht, wenn eine Rampe oder eine Behindertentoilette angebracht werden.

Leidmedien.de: Welches Empowerment haben sie in Ihrer bisherigen Laufbahn erhalten?

Katrin Langensiepen: Mein familiäres Umfeld hat mich immer unterstützt. Wir pflegen einen sehr natürlichen Umgang mit der Behinderung. Ich wurde immer dazu angehalten, Dinge auszuprobieren und auch mal das Scheitern zuzulassen. Dadurch habe ich viele Dinge gelernt. Wichtig ist, dass auch Pädagogen wie Lehrer o. ä. einen nicht aufgeben. Sie sollten einen Menschen mit Behinderung ermutigen.

Leidmedien.de: Sie haben schon in vielen Ländern gelebt, darunter die Niederlande, Frankreich und Israel. Gab es spürbare Unterschiede, egal ob in der Barrierefreiheit oder in der Einstellung gegenüber ihrer Behinderung? 

Katrin Langensiepen: Die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung in den Kulturen ist unterschiedlich. An vielen Orten ist das Thema Behinderung leider immer noch ein Tabuthema. Wenn, dann wird es ausschließlich in den eigenen vier Wänden verhandelt, zum Beispiel in der Familie. Es wird aber prinzipiell nicht nach außen getragen. In China zum Beispiel herrschte große Fassungslosigkeit und Ahnungslosigkeit. Ablehnende Reaktionen mir gegenüber wurden nicht versteckt und öffentlich preisgegeben. In Holland traf ich einmal auf einen Hindu, er glaubte an Reinkarnation (Wiedergeburt) und sagte zu mir, dass ich in meinem früheren Leben mich schlecht verhalten hätte und diese Behinderung nun meine Strafe wäre. Ich sehe das natürlich anders, kulturelle Unterschiede liegen immer in der Denkweise, in der Einstellung und in Vorurteilen. Ich konnte unglaublich viele Erfahrungen und Eindrücke sammeln.Auch wir in Deutschland hatten dieses Phänomen schon. Wenn Kultur versucht behinderte Menschen zu verstecken, so ist das Umfeld da natürlich auch selten barrierefrei oder behindertengerecht.

Bilder: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de