Mitte Mai fanden die 6. Kulturtage der Gehörlosen in Potsdam statt. Worum es bei diesem Event geht und welche Bedeutung es in der Gehörlosen-Szene hat, erklärt Wille Felix Zante.
Bei den Kulturtagen treffen sich etwa 2.500 Gehörlose aus der ganzen Bundesrepublik, um sich drei Tage lang zu den verschiedensten Themen auszutauschen. Daneben ist und war das Kommunikationsforum, kurz Kofo, eine wichtige kulturelle Institution der Gehörlosen. Das sind Orte, an denen sich die Menschen begegnen und austauschen können. Denn: Selbst wenn Gehörlose eine hohe Lese- und Schreibkompetenz haben, haben sie immer noch ein großes Informationsdefizit. Vieles kann man sich anlesen, vieles kann man aus Internet und Fernsehen erfahren, aber der echte zwischenmenschliche Austausch fehlt vielen trotzdem.
Im Kofo werden Themen durch Referenten vorgestellt — früher oft Hörende mit Dolmetscher, mittlerweile mehr Gehörlose in Gebärdensprache — dann gibt’s Zeit für Wortmeldungen, die meist auf das Schema „Ich erzähle meine Lebensgeschichte und vergesse, eine Frage zu stellen“ hinauslaufen, so dass man oft nicht wirklich von einer Diskussion sprechen kann. Aber vor allem sind Kofos eins: Gelegenheit zu ungefiltertem Austausch mit Anderen. Meist quatscht man parallel oder nebenher noch mit anderen. So ungefähr ist es bei den Kulturtagen, nur in enorm hoher Konzentration.
Verantwortlich für die Kulturtage ist der Deutsche Gehörlosenbund, ein vor allem aus regionalen Gehörlosenverbänden bestehender Dachverband. Nach den letzten Kulturtagen rutschte dieser in eine erhebliche Finanzkrise und stand fast vor dem Aus — doch eine Spendenaktion der Basis-Mitglieder und viele Verhandlungen mit Gläubigern konnten ihn gerade noch vor der Insolvenz retten, und damit auch die Kulturtage. Mit Müh und Not sollten sie nun 2018 stattfinden — allerdings in Potsdam und nicht im repräsentativerem Berlin.
Schätzungen zufolge gibt es etwa 80.000 Gehörlose in ganz Deutschland. Das entspricht der Bevölkerung von Flensburg — aber verteilt auf die ganze Bundesrepublik. Ziemlich dünn. Durch die Industrialisierung und die Gründung von Gehörlosenschulen konnten sich die Gehörlosen auf Ballungsräume konzentrieren, doch der Austausch ist nach wie vor gering. Hinzu kommt, dass durch das Cochlea Implantat — bei erfolgreicher Implantierung — viele eigentlich gehörlose Kinder de facto der Community nicht mehr angehören. Im Kern heißt das: Wenig Leute zum Treffen.
Entspannt plaudern
Und das ist auch der Hauptanlass für die Kulturtage. Bekannte und Unbekannte treffen, mal mit neuen Leuten plaudern, vor allem entspannt plaudern ohne den ständigen Kampf ums Verstehen und Kommunikationsbarrieren. Logisch, auch unter Gehörlosen gibt es welche, die sich nicht ausstehen können. Es sind nicht alle eine „Big Happy Family“, aber zumindest bei den Kulturtagen hat man mal etwas mehr Auswahl im Networking. Es ist immer wieder ein sehr schönes Erlebnis, sich einfach drei Tage lang von Gespräch zu Vortrag zu Gespräch treiben zu lassen. Im Alltag geht das nicht. Mal eben ein Bier in der Eckkneipe oder einen Kaffee trinken und mit irgendwelchen Fremden quatschen ist nicht. Lippenlesen, Pen & Paper, ist alles Alltag, aber trotzdem nervig.
Dafür sind dann auch viele bereit, bis zu 250 Euro hinzulegen. Die Themen sind eigentlich zweitrangig. Die 2018er Kulturtage waren schon lange, bevor die Themen feststanden, ausverkauft — und dann wusste man nicht viel mehr, als dass es um „Politik“ oder „Queer“ oder „Theater“ geht. Erst kurz vor Beginn gab es ein detailliertes Programmheft. Das lange feststehende Motto „inklusiv und gleichwertig“, bezogen auf „unsere Kultur“ ist da eigentlich ziemlich nichtsagend, zumal eine Veranstaltung, von der Hörende erst erfahren, wenn sie schon fast ausverkauft ist, eigentlich eher exklusiv ist. Da hilft es auch nicht viel, dass vieles in Lautsprache verdolmetscht wurde, da haben eigentlich nur Hörende was von, die schon in der Szene drin sind. Trotzdem ein schönes Symbol. Weniger Symbolcharakter und tatsächlich praktischen Nutzen hatte die starke Einbindung von Taubblindenassistenten: Wenn Gehörlose von der Gesellschaft ausgeschlossen sind, trifft das Taubblinde hundertfach mehr. Ohne Assistenz läuft da nicht viel, und die wurde angeboten. Ganz selbstverständlich.

Gehörlose – eine sprachliche Minderheit?
Thematisch ging es diesmal viel um Politik: Zwar wurde der erste Tag fast komplett daran vergeudet, sich nahezu identische Begrüßungsreden von Politikern anzuhören, aber dafür konnten die anderen Tage überzeugen. Ich fand die Idee von Thomas Wartenberg (taub, sprachlicher Frühförderer, Diplom-Sozialarbeiter/Sozialpädagoge), Gehörlose als sprachliche Minderheit zu betrachten, interessant — ihnen also einen ähnlichen Schutz zu gewähren wie den Dänen oder Friesen in Norddeutschland beispielsweise. Praktisch soll das aber laut der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen nicht möglich sein, weil den Gehörlosen ein konkretes Territorium fehle. Wartenberg hielt dagegen, dass auch Sinti und Roma besonderen Schutz genießen würden, ohne ein konkretes Territorium vorweisen zu können… dahingestellt bleibt aber, ob das tatsächlich einen so großen Vorteil bringt.
Die hörenden Vertreter der Fernsehsender konnten dann bei der Talkrunde zum Thema Untertitel erzählen, warum Untertitel in der Qualität wie in England und den USA nicht möglich seien. Deutsch hätte zu lange Wörter und eine andere Struktur, na ja. Gelinde gesagt fühlt sich vieles, was die Rundfunkvertreter und in anderen Forenbereichen Politiker sagten, wie Ausreden und Wunschdenken an, aber zumindest machte der neue Bundesbehindertenbeauftragte Jürgen Dusel einen sympathischen Eindruck mit seinem Aufruf, die Kulturtage nicht nur zu beackern, sondern auch zu feiern. Und gut, vielleicht braucht Politik auch einfach mehr Zeit.
Keine spannenden Themen
Martin Vahemäe-Zierold, bekannt als tauber Grünen-Politiker, gab eine Einführung in das Thema Gender, Queer und sexuelle Identität, Manuel Gnerlich, tauber IT-Fachmensch aus Hamburg, erzählte unter anderem, was Blockchain eigentlich ist. Hier zeigten sich nicht nur an den Publikumsfragen/-statements die Kofo-Wurzeln der Kulturtage: Fachleute erzählen von aktuellen Themen, quasi als Bestandsaufnahme. Neue provokante Thesen oder Impulse für Diskussionen sind die Ausnahme. Insgesamt gab es meiner Meinung nach wenig spannende Themen. Entweder ging es um Behindertenpolitik mit Schwerpunkt Taubheit oder um Themen, die auch Hörende beschäftigt haben, etwa Mobbing in sozialen Medien.
Insgesamt war die Mehrheit der Vorträge sehr frontal und wenig interaktiv gestaltet, was sicher auch der großen Masse an Menschen und der geringen Zahl von vier Bühnen anzulasten ist. Durch die offene Gestaltung — lediglich zu den Seiten trennten Vorhänge die Bühnen, nach hinten war alles frei — war ich schnell verleitet, mich einfach zwischen den Vorträgen treiben zu lassen. Das war an und für sich auch ganz schön, aber auch symptomatisch dafür, wie inhaltlich dünn die Kulturtage bisweilen waren.
La-Ola-Welle in der Potsdamer Innenstadt
Höhepunkt der gesamten drei Tage war definitiv die samstägliche La-Ola-Welle in der Potsdamer Innenstadt: An die tausend Gehörlose blieben nach einem „Signmob“ (angelehnt an Flashmobs) noch lange in der Fußgängerzone am Luisenforum, quatschten, aßen, tranken Kaffee, kauften ein, ließen sich bei einem Bier die Sonne auf die Hände scheinen: Einmal wurde der Spieß umgedreht und Hörende zu einer sprachlichen Minderheit. Surreal und schön.
Der traditionelle Galaabend zum Schluss war eher beliebig: Jonglieren, Tanzen, Sketche und die Kulturpreise, mit der herausragende Persönlichkeiten in der Szene geehrt werden sollen. 2008 gab es noch einen kleinen Skandal, als der Preis ausschließlich an Männer ging, 2012 gab es dann als ausgleichende Gerechtigkeit nur für Frauen Preise, und nun: genau 2 Preise für Frauen, 2 Preise für Männer. Dazu noch überraschend drei Sonderpreise an die drei Frauen, welche die Spendenaktion ins Leben riefen, die den DGB zwischen den Kulturtagen rettete. Die Preise sind nicht dotiert, aber heiß begehrt: Wer ihn bekommt, ist wichtig in der Community, ist bekannt und angesehen und hat Großes geleistet. Ganz ohne Eklat ging es nicht: Bevor es die eigentliche Preisverleihung gab, wurde Karin Kestner, die sich seit Jahrzehnten für die Rechte Gehörloser einsetzte und auch im CI-Streit von Braunschweig aktiv wurde, nur mit einem trockenen „Danke“ bedacht — und noch nicht einmal zu den Kulturtagen eingeladen. Sie selbst juckte das dann auf Nachfrage nicht viel: Viel wichtiger seien ihr die positiven Rückmeldungen Gehörloser auf ihre Arbeit.
Na ja, irgendwie sind die Kulturtage für mich immer schwierig. Es ist schön, drei Tage lang voll und ganz in die für mich barriereärmste Sprache und ihre Nutzer*innen einzutauchen, neue und bekannte Gesichter zu sehen, und auch frustrierend, den gefühlt immer gleichen Brei an Themen zu sehen. Aber trotzdem freue ich mich auf die nächsten Kulturtage. Nicht zuletzt, weil der anschließende Austausch über die Veranstaltung selber fast genauso viel Spaß macht wie dabei zu sein.
Bilder: DGZ/Norbert Richter