
Ende September erschien „autismus verstehen“, ein neues Magazin des gleichnamigen Vereins. Unsere Autorin Marlies Hübner sprach mit den Machern und hat sich die erste Ausgabe angesehen.
Kann ein monothematisches Magazin zu einer Behinderung einen Beitrag zur Inklusion liefern? Die Redaktion von „autismus verstehen“ bejaht das ausdrücklich. „Bei dem Magazin handelt es sich um ein Inklusionsprojekt“, so Andreas Croonenbroeck. „Zum einen in Bezug auf die Redaktion: Menschen mit Autismus-Diagnosen arbeiten in etwa gleichen Anteilen und selbstverständlich gleichberechtigt mit Menschen ohne Autismus-Diagnosen zusammen.“
Dieser Faktor ist nicht zu unterschätzen, da sich das Magazin nach Angaben der Redaktion an Menschen im Autismus-Spektrum, Angehörige und Interessierte aller Altersklassen richtet, also eine große Gruppe Menschen ansprechen soll. Die Macher Christoph Ammon, TV-Journalist, Coach und Hypnotiseur, und Andreas Croonenbroeck, Art Director, Autor und selbst Autist möchten die Vielfalt des Autismus-Spektrums abbilden, konzentrieren sich im ersten Heft jedoch auf das Thema „Asperger“. Die veraltete Bezeichnung für einen Teil des Autismus-Spektrums, der nicht mehr separat benannt wird, taucht bei der Lektüre besonders häufig auf.
„Als Autoren kommen Menschen mit Autismus-Diagnosen und Angehörige zu Wort, aber auch Fachleute“, sagt Croonenbroeck weiter. „Dadurch werden Themen aus verschiedenen Sichtweisen vermittelt, was unumgänglich ist zum gegenseitigen Verständnis. Nur wenn man sich gegenseitig versteht, können gemeinsam Wege gefunden werden, wie Inklusion gelingen kann.“
Hinter dem Magazin steht der gleichnamige, durch Spenden finanzierte Reutlinger Verein, der bislang Fortbildungen für Fachkräfte, Schulungen und Selbsthilfegruppen anbietet und sich verpflichtet hat, eine autistische Person im Vorstand zu haben, um zu gewährleisten, nicht nur über, sondern auch mit Autist*innen zu sprechen. Die Finanzierung des ersten Heftes erfolgte durch eine großzügige Spende der Hans-Schwörer-Stiftung in Sigmaringen.
Professionelles Design
Im Mittelpunkt steht natürlich der Inhalt. Doch auch der äußere Eindruck zählt. Das Zeitschriften-Design von „Autismus verstehen“ gibt sich unaufgeregt und stilvoll und das geschmackvolle, minimalistische Layout in Kombination mit dem verhältnismäßig dicken Papier vermittelt den Eindruck eines qualitativ hochwertigen Fachmagazins, noch bevor man den ersten Text gelesen hat. Das Heft ist reichhaltig mit Fotografien versehen, ohne überladen zu wirken. Sind auch einige wenige Seiten recht voll geraten, so ist das Magazin-Design im Großen und Ganzen positiv hervorzuheben. “Autismus verstehen” wirkt professionell, und das ist im Umgang mit dem Thema Autismus ein wünschenswerter Ersteindruck.
„Autismus verstehen“ deckt entsprechend der Zielgruppe auch ein ähnlich breites Themenfeld ab: Von Schule und Beruf über Diagnostik bis hin zu Social Media und Fotografie erweckt man den Eindruck, für jede*n etwas dabei zu haben. Der Ton bleibt dabei eher sachlich bis distanziert. Manche Themen des Heftes kennt man bereits aus zahlreichen Blogs autistischer Autor*innen oder aus anderen Medien, wie zum Beispiel den Bericht zu Echolilia, das Projekt über die Annäherung eines Vaters an seinen autistischen Sohn mittels Fotografie. In einem Heft aufgearbeitet gibt man ihnen vermutlich die Chance, ein breiteres Publikum zu erreichen.
Ebenfalls zu empfehlen ist das Interview mit dem Oberarzt der Kinder- undJugendpsychiatrie Tübingen, Dr. med. Gottfried Maria Barth, in dem auf Lesbarkeit und Verständlichkeit geachtet und seine Wertschätzung gegenüber Autist*innen deutlich wird. Dr. Barth betont, dass keine autistische Person der anderen gleicht und eine Diagnose oftmals sehr schwer zu stellen ist. Dabei vergisst er nicht, auf die Wichtigkeit von Diagnosen und den entsprechenden Hilfen hinzuweisen.
Die 32jährige Jeanine Heise, selbst Autistin, berichtet in ihrem Bericht über autistische Sinneswahrnehmungen, und Patricia Nägele beschreibt ihre nicht immer einfache Ausbildung zur Konditorin in einer kurzen Kolumne. Für Nichtbetroffene können das spannende Einblicke sein.
Konfliktpotenzial
Doch die Redaktion scheint auch unkritisch gegenüber sensiblen Themen zu sein. So liest man in der Sektion „Nachrichten“ über den Ex-Boygroup Star Keith Duffy und seine Stiftung für autistische Kinder. Duffy schwört jedoch auf die Behandlungsform ABA, bei der durch Drill Kinder konditioniert werden, möglichst unautistisch zu wirken. ABA ist eine Lernmethode, gegen die Autist*innen weltweit kämpfen.
“Autismus verstehen” wird sich, zumindest zu Beginn, den Vergleich mit dem ambitionierten, inzwischen eingestellten N#mmer-Magazin gefallen lassen müssen. Hatte N#mmer die Emanzipation und Stärkung von Autist*innen als selbstbestimmte Individuen im Blick und war mutig genug, polarisierende und provokative Themen aufzugreifen, so scheint “Autismus verstehen” vor allem darauf zu achten, ein bestimmtes Publikum anzusprechen: Angehörige und Fachkräfte. Ob es auch Autist*innen anspricht, muss sich noch zeigen.
Ausgabe 2 von „Autismus verstehen“ erscheint im März 2018.