In der neuen Folge „Team Wallraff – Reporter undercover“ (RTL) wurde in Wohnstätten und Werkstätten für Menschen mit Behinderung gedreht. Die Reporterin Caro Lobig gab sich als Praktikantin aus und beobachtete Übergriffe, verbale und körperliche Gewalt seitens der Betreuer*innen gegenüber den Menschen in den Einrichtungen. Mittlerweile wurden einige Betreuer*innen bereits freigestellt. Eine Zusammenfassung der Medienberichte und Reaktionen im Netz.

Artikel

Die Rheinpfalz sprach mit der Reporterin Caro Lobig und berichtet von ersten Reaktionen der Lebenshilfe:

Die Lebenshilfe Speyer-Schifferstadt hatte sich gestern Nachmittag mit einer Erklärung an die Presse gewandt, in der sie vor Ausstrahlung der RTL-Sendung Stellung bezog. Sie wirft darin dem Infonetwork RTL vor, die Privatsphäre der Bewohner bewusst verletzt zu haben. Am 18. Januar habe sich die Mediengruppe RTL Deutschland in einem fünfseitigen Schreiben an die Lebenshilfe gewandt. „Das Schreiben überrascht uns. Dennoch nehmen wir jeden einzelnen der benannten Vorwürfe sehr ernst“, heißt es seitens der Lebenshilfe.

Der Berliner Kurier und der Express geben eine Zusammenfassung des Sendungsinhalts:
Wehrlose Menschen, die völlig willkürlich mit Stubenarrest oder Essensentzug abgestraft werden, weil sie sich mit ihrer Behinderung oft nicht so verhalten können, wie es die genervten Betreuer gerne hätten.

Die Huffington Post berichtet von der Reaktion des Pflege-Experten Claus Fussek auf die Undercover-Aufnahmen:
Pflege-Experte Claus Fussek, der die Undercover-Aufnahmen am Bildschirm betrachtet, reagiert schockiert. „Das ist ein respektloser Umgang mit Hilflosen“, sagt er. (…) Fussek machen diese Aufnahmen fassungslos: „Das ist mutwillig und das ist Vorsatz. Das besonders Beschämende ist auch, dass die umliegenden Mitarbeiter das scheinbar für normal halten.“ Das gehe gar nicht, sagt der Experte. „Sie demütigen, sie erniedrigen jemanden, der wehrlos ist.

Der Focus bemängelt, dass das Team um Wallraff nicht noch mehr gegen die Missstände unternommen hat:
Das Team um Günter Wallraff selbst sieht erst ein Jahr später nach, was mit dem Mädchen passiert ist. Warum nicht sofort eingegriffen wird, wenn die Missstände doch so offensichtlich sind, wird dem Zuschauer nicht erklärt. Das ist mehr als unbefriedigend!

Dem Kölner Stadt-Anzeiger gab Raúl Krauthausen ein Interview zur Sendung:
Das kommt uns sehr bekannt vor. Und diese Zustände müssen jetzt unbedingt an die Öffentlichkeit. Viele Betroffene erzählen ähnliche Dinge, seien es Bewohner oder Beschäftigte. Dabei geht es in unserer Kritik nicht um den Berufszweig der Pfleger oder um einzelne Mitarbeiter, sondern um Strukturen, die das zulassen und nicht publik werden.

Bei RTL sprach Raúl Krauthausen mit Günter Wallraff ebenfalls über die Sendung, und allgemein über die Situation in Wohnheimen und Werkstätten für behinderte Menschen:
‚ (…) Viele Werkstätten finden Gründe, warum es nicht geht, Menschen in den Arbeitsmarkt zurückzubringen.‘ Krauthausen sieht dabei das Problem, dass die Werkstätten untereinander in Konkurrenz um Aufträge aus der freien Wirtschaft stehen. ‚Kein Unternehmen ist so blöd, seine besten Mitarbeiter abzugeben.‘

Die Journalistin und Aktivistin Christiane Link schreibt in ihrem Blog dazu:
In Wahrheit hat man da jahrzehntelang gut Geld verdient – der Begriff Wohlfahrtsindustrie trifft es schon ganz gut – und jetzt kommt da so ein Nestbeschmutzer, der was von Menschenrechten erzählt, sich Experten ins Boot holt, die Heimaufsichten vorführt und am Soziallack kratzt, weil behinderte Schutzbefohlene rumgeschupst und misshandelt werden und Verträge mit der Arbeitsagentur offensichtlich nicht so genau genommen werden.

Buchautorin Marlies Hübner meint:
Fakt ist: Es gibt einen Pflegenotstand. Das ist ein wichtiger Punkt, der weder verdrängt werden noch dazu führen darf, Zustände zu relativieren. Pflegepersonal, Betreuer*innen, Pfleger*innen und Ärzte sind massiv überarbeitet, unterbezahlt und dauerhaft überlastet. Der Personalschlüssel ist oft unzureichend – es gibt zu wenige Stellen für zu viele pflegebedürftige Menschen. Das steht außer Frage. Fakt ist aber auch, dass es in der Pflege sowohl Menschen gibt, die in ihrem Beruf anderen mit Achtung und Respekt begegnen, als auch jene, die das nicht tun – und zwar unabhängig davon, wie gut oder schlecht sie bezahlt wurden.

Der Aktivist Raúl Krauthausen meint:
Wir Behindertenrechtsaktivist*innen prangern schon lange an, dass behinderte Menschen in Sondereinrichtungen einschränkt, isoliert und im schlimmsten Fall psychisch gebrochen und physisch misshandelt werden.

Inklusionsaktivist Constantin Grosch schreibt in seinem Blog:
Die Strukturen führen zu lineare und immer gleichen Biographien: Behinderung -> Sonder-/Förderschule -> Werkstätten -> Heim. Ein Ausbrechen ist nicht vorgesehen. Angebliche Förderungen werden als Quersubventionierung oder Beschäftigung missbraucht und alternative Formen ausgebremst. Inklusion bedeutet, Systeme an den Menschen auszurichten. Heute wird das Gegenteil praktiziert, gerade von denen die nach außen glamorös für „Inklusion“ werben – „ihre Inklusion“.

Für Hintergrundinformationen

Behinderte Menschen können für ihre Arbeit in einer Werkstatt für Behinderte nicht den gesetzlichen Mindestlohn beanspruchen. Denn diesen können nur Arbeitnehmer, nicht aber arbeitnehmerähnliche Beschäftigte verlangen, entschied das Arbeitsgericht Kiel.

Tatsächlich können die Werkstätten ihre Leistungen nur deshalb so preiswert anbieten, weil die Beschäftigten keinen Tarif- oder Mindestlohn erhalten, sondern nur ein geringes Entgelt. Arbeitsrechtlich gelten sie als „Rehabilitanden“ und nicht als Angestellte. Das Entgelt liegt im Bundesdurchschnitt bei 185 Euro im Monat, das Minimum im Osten sogar bei nur 117 Euro.

  • „Das Heimexperiment“: Raúl Krauthausen hat im vergangenen Jahr ein Experiment gewagt, bei dem er fünf Tage in einer Wohnstätte für Menschen mit Behinderung verbrachte. Er fühlte sich dabei vieler Freiheiten beraubt. In diesem Film schildert er seine Erlebnisse:

Einige Reaktionen auf Twitter:

Diskussionen auf Facebook

Ich fordere sofortige Maßnahmen gegen die Verantwortlichen. Außerdem muss aufgeklärt werden, wie es zu diesen Missständen kommen kann.

 

An alle da draußen, die nach der Skandal-Aufdeckung in Einrichtungen für behinderte Menschen durch Team Wallraff – Reporter undercover von RTL jetzt sagen: „Aber unseren Bewohner_innen/Beschäftigten geht es gut. Man darf uns nicht alle über einen Kamm scheren“. Euch sei gesagt: Anstatt Euch selbst zu loben und von den anderen abzugrenzen und die Strukturen somit zu bestätigen, folgende Anregungen:

1. Solidarisiert Euch mit denen, die in anderen Einrichtungen misshandelt werden.
2. Meldet Mißstände (auch bei Euch) nicht nur der Heimleitung sondern auch der Öffentlichkeit.

Denn ANGEKÜNDIGTE Kontrollen und das Wegwischen von Vorwürfen haben genau zu solchen Zuständen geführt. Niemand will etwas gesehen haben. Natürlich beschweren sich die Bewohner_innen nicht, wenn sie in Abhängigkeit sind. Ich habe es am eigenen Leib erlebt: www.heimexperiment.de

Bewohner_innen beginnen mit der Zeit die Strukturen zu internalisieren und resignieren.
Bestrafungen bei Protest führen genau dazu.

Für alle, die die Reportage noch nicht gesehen haben, hier ist der Beitrag online. Es bleibt abzuwarten, welche weiteren Konsequenzen aus den Aufdeckungen der Reportage gezogen werden. Einige Verantwortliche haben bereits Prüfverfahren eingeleitet. Es ist wichtig im Hinterkopf zu behalten, dass es auch Einrichtungen gibt, in denen respektvoll und empathisch mit den Bewohner*innen umgegangen wird. Generell kann aber hinterfragt werden, inwieweit die Unterbringung in Heimen und Werkstätten sinnvoll ist

Titelbild: Screenshot noz.de