In Film und Fernsehen kommen behinderte Menschen in Krimis oft vor. Das zeigte schon die Journalistin Anne Haage   für Leidmedien. Die Behinderung ist dabei ein zentrales Spannungselement und bestimmendes Merkmal ihrer Persönlichkeit. Welche Rolle eine Behinderung in Kriminalromanen spielen kann, analysiert Andrea Schöne.

„Eine gelähmte Revoluzzerin, ein harmoniesüchtiger Grabredner, eine angeknackste Straftäterin“ – So werden die Protagonist*innen in Gudrun Lerchbaums Kriminalroman auf dem Buchrücken bezeichnet. Eine Frau mit Multipler Sklerose und im Elektro-Rollstuhl namens Olga Schattenberg will den Mörder von ihrem Ex-Mann Can Toprak finden.

Die Situation wie sich die Protagonist*innen kennenlernen ist erst mal etwas eigenartig: Die Geschichte startet mitten auf der Beerdigung von Olga Schattenbergs Ex-Mann Can Toprak. Durch einen Zufall lernt sie nach der Beerdigung den Grabredner Adrian Roth und seine Ex-Freundin Christiane Bach, genannt Kiki, kennen. Beide werden zu Olgas engsten Freund*innen. Olgas Ex-Mann Can war investigativer Journalist und arbeitete kurz vor seinem Tod an einer politisch heiklen Geschichte. Auf Cans Laptop vermutet Olga Hinweise, wer ihn ermordet haben könnte. Es beginnt eine spannende Jagd nach Cans Laptop, denn nicht nur Olga und ihre Freund*innen sind hinter diesem her.

Vielschichtige Handlung in drei Perspektiven

Die Handlung von „Wo Rauch ist“ ist sehr komplex – im Mittelpunkt steht die Suche nach der Mörder*in von Olgas Ex-Mann. Der Verdacht ändert sich immer wieder aufs Neue. Der Roman greift auch die politisch-nationalistische Grundstimmung in Europa auf. Unerwartet überschlagen sich die Ereignisse, als es zu einem weiteren Mord kommt. Die bereits aufgeheizte Stimmung wird von rechtsradikalen Teilen aus der Politik und Bevölkerung geschickt genutzt und für ihre Zwecke instrumentalisiert. Beide Morde werden in einem völlig falschen Zusammenhang miteinander in Verbindung gebracht. Das hat besonders für Bürger*innen mit Migrationsgeschichte gravierende Folgen, welche sich am Ende der Handlung zeigen.

Besonders spannend ist die Erzählweise: Die Handlung wird aus der Perspektive der drei Protagonist*innen Olga, Kiki, und Adrian geschildert und wechselt sich in jedem Kapitel ab. Daher bekommen die Leser*innen aus jeder Perspektive nicht nur einen ganz individuellen Blick auf deren Leben und Hinweise wer der/die Mörder*in sein konnte, sondern auch von zwei Seiten einen Blick auf Olgas Leben mit Behinderung.

Leben mit Multipler Sklerose

Olgas Gedanken und Handlungen zeigen den Eigenblick einer Frau, die mit MS und Rollstuhl lebt. Der Eigenblick bedeutet, dass ein Mensch mit einer Behinderung aus der eigenen Perspektive über sein Leben spricht. Für Olga ist ein selbstbestimmtes Leben und respektvoll behandelt zu werden das A und O. Daher beschäftigt sie Kiki als persönliche Assistenz, für alle Arbeiten und Handgriffe, die sie selbst nicht mehr machen kann. Olga arbeitet als Buchhändlerin und übernimmt im Laden alle Aufgaben, die sie selbst durchführen kann.

Olga fordert selbstbewusst Respekt von ihren Mitmenschen ein. Manchmal geht sie dabei etwas aggressiv vor, zum Beispiel als ein*e Falschparker*in ihr den Gehweg versperrt und sie dafür im Gegenzug mit ihrem Elektro-Rollstuhl Dellen in das Auto fährt. Da zeigt Olga ihre raue Seite aus Zeiten als Hausbesetzerin in der autonomen Szene. Auch danach ist Olga politisch engagiert geblieben und kommentiert rechtsextremistische Ausschreitungen konsequent und scharf.

Nach außen geht Olga sehr progressiv mit ihrer Behinderung um. In ihren Gedanken dagegen ist sie auch verletzlich und wütend auf ihre Einschränkungen. Besonders nach einem Schub im Laufe der Handlung fühlt sie sich wegen der Schmerzen und der fortschreitenden Taubheit in ihrem Körper elend, hilflos und ringt mit ihrem Leben. Sie erwägt sogar Suizid als Lösung für die Zukunft. An dieser Stelle wird Olgas Behinderung stark mit Stereotypen und Klischees aufgeladen, da hiermit auch der Eindruck entstehen kann, dass Menschen mit einer erworbenen Behinderung immerzu zu Suizid neigen.

Kiki und Adrians Blick auf Olgas Behinderung

Als Kiki zum ersten Mal auf Olga trifft, reagiert sie in Gedanken erst mal abschätzig auf Olgas Behinderung und das obwohl sie gelernte „Heimhelferin“ ist. Sie nennt sie „Rollstuhlfrau“ oder „Krüppelfrau“, bemitleidet sie und kann sich nicht so recht vorstellen, wie man mit einer Behinderung lebt. Kiki hatte eine schwere Kindheit, die ihr auch als Erwachsene einige Probleme bereitet. Daher wird Olga immer mehr ihr Vorbild, das sie bewundert. Dabei ist nicht immer ganz klar, ob ihre Bewunderung nur durch Olgas Behinderung ausgelöst wird.

Adrian ist unsicher wie er mit Olgas Behinderung umgehen soll, weil er wenig Kontakt mit behinderten Menschen im Leben hatte. Er steht ihr aber nicht ablehnend gegenüber. Er bewundert, „dass sie ihr Leben nicht vom Schmerz bestimmen lässt.“ Beide kommen darüber ins Gespräch und Olga empfindet es als respektlos, da sie der Meinung ist, dass man jemanden, den man bemitleidet nicht respektieren kann. Adrian dagegen meint, dass „man leidenden Menschen ganz besonderen Respekt entgegenbringt, zumal, wenn sie sich weigern, ihr Leben vom Schmerz bestimmen zu lassen.“ Damit stützt Adrian auch gleichzeitig den bewundernden Blick wie Olga mit Multipler Sklerose lebt.

Die Einschränkungen durch Multiple Sklerose wie Taubheit in den Fingern oder Olgas Hände als „Porzellanpuppenhände“ zu beschreiben, zeigten einen starken medizinischen Blick auf ihre Behinderung. Die Beschreibungen nehmen viel Raum ein und werden überwiegend aus der Perspektive von Kiki und Adrian beschrieben.

Die Autorin Lerchbaum im Profil. Sie hat braune Haare und braune Augen und schaut ernst. Wie hat sich die Autorin informiert?

Im Nachwort zum Roman beschreibt Gudrun Lerchbaum, dass eine Freundin von ihr selbst mit MS gelebt und sich stark für Inklusion behinderter Menschen eingesetzt hat. Sie hat sie zur Figur „Olga“ inspiriert. Im Gespräch erklärt Lerchbaum, dass ihre Freundin nicht wie Olga war und auch nicht ihre Krankheitssymptome hatte: „Lediglich ihr Anliegen, Menschen mit Behinderungen selbstverständlich zu inkludieren und sie nicht über ihre Krankheit zu definieren, habe ich übernommen. Ich empfinde es als absolut notwendig, dass meine Charaktere ein eigenständiges Leben unabhängig von realen Personen entwickeln.“

Für ihre Recherchen über MS erkundigte sich die Autorin neben ihren Erfahrungen mit ihrer Freundin, bei einem Neurologen und bei der Multiplen Sklerose Gesellschaft Wien. Ihre wichtigste Auskunftsperson war Margot Sepke, die selbst mit MS lebt und das Buch vor dem Lektorat gelesen hat. „Sie war sehr begeistert, meinte, dass sie selbst nie in der Lage gewesen wäre, ihre eigenen Empfindungen so genau zu beschreiben, wie ich es getan habe“, erklärte dazu Gudrun Lerchbaum.

Für Gudrun Lerchbaum seien alle drei Hauptcharaktere gleichermaßen beeinträchtigt“ und das macht sie auch erst für die Geschichte interessant: „Ich gestalte meine Charaktere so, dass sie mich interessieren und dass sich aus ihrer Verfasstheit eine Handlungsnotwendigkeit ergibt. Zudem denke ich, dass es fast keine Menschen gibt, die nicht in irgendeiner Weise vom Leben gezeichnet sind. Es ist also aus meiner Sicht der Normalfall, auch wenn Ausprägung und Art der Beeinträchtigung unterschiedlich sind. Die wenigen ganz und gar Unbeeinträchtigten sind als Romanfiguren doch langweilig. Was sollte man über sie erzählen?“

Aus der Sicht von behinderten Menschen ist diese Aussage fragwürdig. Menschen mit Behinderung werden aufgrund von Gesetzen und Barrieren an der Teilhabe an der Gesellschaft gehindert, andere Menschen erleben diese Art von Schwierigkeiten nicht.

Pressestimmen

Die Rezensionen beschäftigen sich mit dem politischen Plot und dem Mord. Die Stuttgarter Zeitung sieht im Umgang der Protagonist*innen mit ihren eigenen Problemen gleichzeitig ein Sozialdrama, das zu einem politischen Krimi hinführt und mit den Floskeln Olga an den Rollstuhl fesselt und an MS leiden lässt.

Die Rezensent*innen haben vor allem Floskeln und Stereotype über behinderte Menschen im Kopf. Ihr Körper wird mehrfach vor allem als unkooperativ bezeichnet, sodass sie daher auch nicht selbst nachforschen kann, ob ihr Ex-Mann ermordet wurde und auch ihr Aktivismus wegen ihrer Behinderung zu Ende ist. Das ist so nicht der Fall. Olga leitet alle Schritte an und tritt weiterhin für ihre politische Ideale ein.

Andere bewundern, wie Olga ihr Leben mit MS doch weiterlebt, arbeitet und in dem Mordfall auf eigene Faust ermittelt. Eine Rezension stellt vor allem Olgas leicht depressive, gereizte Seite in den Vordergrund und dass sie kein Mitleid will. Das vermittelt den Stereotyp, dass behinderte Menschen vor allem depressiv, gereizt oder beides sind.

Das ist sehr schade, da der Roman Olga als eine selbstständige und emanzipierte Frau mit Behinderung darstellt. Wie der Roman auf gesellschaftliche Missstände im Umgang mit behinderten Menschen aufmerksam macht, erwähnt keine Rezension.

Fazit

Es ist unumgänglich für Autor*innen, mit behinderten Menschen zu sprechen, um auch aus der Perspektive einer Protagonistin mit Behinderung schreiben zu können. Allerdings sehen auch die Lebenswege und Einstellungen von Menschen mit der gleichen Behinderung individuell aus. Daher kann eine Person schwer entscheiden, ob die Darstellung von einem Leben mit Multipler Sklerose so auch stellvertretend für das Leben von anderen Menschen mit MS steht.

Die Protagonist*innen ohne Behinderung zeigen einige Stereotype, zum Beispiel den medizinischen Blick, über ein Leben mit Behinderung. Die medizinischen Beschreibungen der Behinderung rücken den Blick der Leser*innen unnötig auf Olgas Defizite in den Mittelpunkt. Wie selbstbestimmt sie weiterhin lebt und auch vielen Interessen nachgeht, die sie auch schon vor ihrer Erkrankung an MS hatte, gelangen in den Hintergrund. Hier wäre die Möglichkeit gewesen, Olgas Behinderung noch mehr als ein Merkmal unter vielen weiteren darzustellen und die Leser*innen zu einer neuen Wahrnehmung über den Alltag mit Behinderung anzuregen.

Sehr gelungen ist Gudrun Lerchbaum die Schilderung über Barrierefreiheit im Alltag von Rollstuhlfahrer*innen und der Vorurteile und Nervosität von Menschen ohne eine Behinderung im Kontakt mit behinderten Menschen. Das hilft Leser*innen ohne Behinderung, ihr eigenes Verhalten gegenüber behinderten Menschen zu hinterfragen. Zudem gibt Lerchbaum auch einen guten Einblick in die Arbeit und ein Leben mit persönlicher Assistenz. Die wachsende Freundschaft mit Kiki und Adrian zeigt gleichzeitig auch, wie sich die Nervosität legt, sobald sie Olga besser kennenlernen.

Das Buch

Gudrun Lerchbaum: Wo Rauch ist
Erschienen im Argument Verlag – Krimilinie Ariadne.

Bilder: ariandne Verlag, Titelbild-Collage: Leidmedien.de