Nujeen Mustafa hat schon früh erlebt, wie es ist, sich anders und nicht dazugehörig zu fühlen – als Kind, das den Krieg erlebt, als behinderter Mensch und als Kurdin. In ihrem Buch “Nujeen – Flucht in die Freiheit: Im Rollstuhl von Aleppo nach Deutschland” erzählt sie ihre Lebensgeschichte. Eine Buchkritik von Chasa Chahine
Nujeen Mustafa wurde 1999 in der Nähe der Stadt Kobane geboren und lebte einige Jahre nahe der türkischen Grenze und in Aleppo. Sie kam mit einer Spastik in den Beinen und Armen zur Welt. Ihre Geschichte wird in “Nujeen – Flucht in die Freiheit” aus der Ich-Perspektive erzählt, jedoch von der Co-Autorin Christina Lamb geschrieben, bekannt durch die Biographie der Kinderrechtsaktivistin und Nobelpreisträgerin Malala Yousafzai („Ich bin Malala“). Das Buch ist in drei Abschnitte gegliedert: ihr Alltag und die Situation in Syrien von 1999 bis 2014, ihre Flucht nach Europa von August bis September 2015 und ihr Leben in Deutschland.
Bomben fallen auf Aleppo
Neben der persönlichen Geschichte erfährt man Einiges über die politischen Zusammenhänge und Entwicklungen, die zum Krieg in Syrien führten, über die Lebensbedingungen der syrischen Kurdinnen und Kurden und über die Situation der Geflüchteten in Europa und Deutschland. Man taucht ein in Mustafas Leben in Syrien, entwickelt eine persönliche Beziehung zur Autorin und folgt ihr auf ihrem Weg nach Deutschland. Die Geschichte kommt trotz ihrer Dramatik und Außergewöhnlichkeit – Krieg, Flucht, Behinderung – ohne jedes Pathos aus. Man bekommt eindringlich mit, wie sich der Alltag und die Lebenswirklichkeit der Familie durch die politischen Entwicklungen und den nahenden Krieg verändern, bedrohlicher und schließlich unerträglich werden.
So schildert Nujeen Mustafa, wie die Kämpfe Aleppo erreichen. Sie beschreibt den beängstigenden Lärm der Kampfflugzeuge und Bomben, wie sie sich verunsichert allein in der Wohnung aufhält, während die Familienmitglieder zur Arbeit, Schule oder Uni sind. Oder wie bei Angriffen die Familie vereint in der Wohnung sitzt, während andere in die Luftschutzbunker fliehen, weil man mit dem behinderten Kind die Wohnung nicht so schnell verlassen kann.
Selbstbestimmtes Leben undenkbar
Die Familie lebt im 5. Stock ohne Fahrstuhl. Nujeen Mustafa besucht keine Schule und verlässt die Wohnung nur einmal im Jahr zu Newroz, dem höchsten kurdischen Feiertag. In der Wohnung bewegt sie sich ohne Rollstuhl fort in einem, wie sie sagt „Kaninchengang“. Mit zehn Jahren kann sie sich nach einer Operation und mit Beinschienen schließlich einigermaßen ohne fremde Hilfe innerhalb der Wohnung bewegen. Als jüngstes und dazu noch behindertes Kind wird ihr vieles abgenommen und nachgesehen, was sie mitunter ausnutzt, andererseits wird sie auch gefordert. So bringt ihr eine Schwester Schulbücher mit nach Hause, die andere Schwester unterrichtet sie im Lesen und Schreiben. Sie liest viel, sieht viel fern, vor allem Dokumentarfilme, und bringt sich auf diese Weise das meiste selbst bei, auch Englisch mit Hilfe einer amerikanischen Seifenoper und Quizshows. Die Autorin lernt so schon von Klein auf, dass sie ihren Kopf und ihre Fantasie einsetzen muss, weil ihr Körper ihr vermeintlich Grenzen setzt. Wobei es weniger ihr Körper als vielmehr eine Umwelt ist, in der ein selbstbestimmtes Leben mit Behinderung erstmal undenkbar ist.
Flucht über Land und Wasser im Rollstuhl
Nujeen Mustafa gelingt schließlich die Flucht nach Deutschland mit einem Rollstuhl, den sie in der Türkei von einer Wohlfahrtsorganisation erhält. Ohne die Eltern, nur mit zwei Schwestern und Verwandten, begibt sie sich über das Mittelmeer und die Balkanroute nach Europa. Eine der Schwestern bleibt die ganze Strecke über fest an der Seite Nujeen Mustafas und schiebt ihren Rollstuhl. Während der Flucht trennen sie sich immer wieder von der restlichen Verwandtschaft, die weite Strecken zu Fuß zurücklegt, während die Schwestern mit Flugzeug, Zug, Bus und Taxi unterwegs sind. Immer wieder hadert Nujeen Mustafa, dass sie nicht wie die anderen flüchten kann. Doch auch sie und ihre Schwester müssen kilometerweit über Feldwege, durch das Gebirge und durch Blumenfelder umherirren.
„Zum ersten Mal waren die anderen auf mich angewiesen“
Ein besonderes Schlüsselerlebnis ist schließlich, wie Nujeen Mustafa bei ihrer Ankunft in Griechenland feststellt, dass sie als einzige in ihrer Familie Englisch spricht. Sie übernimmt fortan die Konversation mit den Einheimischen und den Flüchtlingshelfern und wird auch später immer wieder als Dolmetscherin für andere Geflüchtete auf der Strecke eingesetzt. So schreibt sie: „Zum ersten Mal in meinem Leben waren die anderen auf mich angewiesen!“. Heute lebt Nujeen Mustafa mit ihren Schwestern in einer Wohnung bei Köln, geht zur Schule, spielt Basketball, hat Freunde, nimmt an Ausflügen und Unternehmungen teil.
Medienecho zum Buch
Diverse Medien berichteten über Nujeen Mustafa. Bereits auf der Flucht wird sie u.a. von der BBC interviewt. Später berichten auch verschiedene deutsche Medien von Bild.de bis Zeit Online über sie. Dort finden sich die gängigen Formulierungen, wenn über behinderte Menschen berichtet wird. Im Klappentext zum Buch heißt es schon: die Autorin sei „trotz ihrer Krankheit, die sie ans Haus fesselte“ eine „bemerkenswert tapfere Syrerin, die nie aufgehört hat, zu lächeln“. Dass es dort außerdem fälschlicherweise heißt, die Autorin sei „mit Kinderlähmung geboren“ (weder hat sie Kinderlähmung, noch wird man mit dieser geboren, sondern erwirbt sie erst später), ist ein peinlicher Fauxpas.
Auf Bild.de wie auch auf Spiegel-Online, „leidet“ sie unter ihrer Behinderung. Ein anderer Spiegel-Artikel endet mit den bewegenden Worten: „Und dann gibt es da noch etwas: ‚Ich hoffe, dass ich in Deutschland geheilt werde‘, sagt Nujeen mit fester Stimme.“ Wobei ich auch hier weniger den Wunsch der Autorin und ihr subjektives Erleben ihrer Behinderung problematisch finde (hierfür wird es verschiedene Gründe geben), sondern eher die Art und Weise, in der der Spiegel-Autor diesen Wunsch zum Schluss eines eigentlich akzeptablen Artikels erwähnenswert findet.
Die Beschreibungen in den Medien stehen dabei in einem deutlichen Kontrast zu dem Bild, das im Laufe der Lektüre von der Person entstanden ist. Es war geradezu irritierend bis verstörend, wie rührselig und bewundernd über Nujeen Mustafa berichtet wurde und sie dadurch zu einer klassischen Vorzeige-Behinderten mutierte. Zeitweilig beschlich mich das Gefühl, dass sie in den Interviews und Videos auch selbst mehr dieser Rolle und einem bestimmten Behindertenbild entsprach und sie kleiner und weniger selbstbewusst wirkte, als es eigentlich in ihrer Biographie der Fall war. Das ist schade, aber leider das klassische Phänomen einer Rollenzuschreibung. Es ist gleichzeitig paradox, denn in Deutschland erfährt Nujeen Mustafa erstmals ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung, wie sie es in Syrien nie erfahren konnte.
Weitere Auftritte in den Medien:
In der Talksendung von Markus Lanz:
Nujeen Mustafas Talk bei Tedx:
Titelbild: Screenshot Zeit.de
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