Über Autismus und AD(H)S wird viel berichtet. Oft in klischeehaften Bildern des hochbegabten Autisten oder des ewigen Außenseiters, der nicht redet und in seiner “eigenen Welt” lebt. Ein Gegenentwurf ist das neue „N#mmer-Magazin“: Mal gefühlvoll, mal nüchtern erzählt es Geschichten aus dem Leben von AutistInnen und AD(H)slern. Judyta Smykowski hat sich mit LeserInnen die erste Ausgabe zum Thema Liebe angeschaut.

Update: Das Magazin wird nicht mehr vertrieben, die Website ist offline.

Viele Facetten der Liebe werden in der aktuellen Ausgabe des N#MMer-Magazins angesprochen: die Elternliebe, das Finden der Liebe mittels Online-Dating und wie man das als Autist und Autistin am besten anstellt. Es geht um Sadomaso, BDSM und “Vanilla-Sex”. Es kommen betroffene AD(H)S-ler und AutistInnen verschiedenen Alters und Lebenswegen zu Wort. Im Magazin wird das Leben nicht romantisiert, es geht um gesellschaftliche Vorurteile und sogar um den Hass von Eltern, die ein autistisches Kind bekommen und dieses töten. Auf den knapp 100 Seiten sind viele Illustrationen zu sehen, die manchmal sehr abstrakt wirken. Sie entschleunigen das Lesen, der Betrachter ist versucht, die Brücke zu den Inhalten zu schlagen.

Auch „neurotypische“ Leute erreichen

Gründerin Denise Linke auf der Release-Party des Nummermagazins. Sie hat kurze blonde Haare, ein schwarzes enges Abendskleid und ein Mikrofon in der Hand.

Gründerin Denise Linke auf der Release-Party des Nummermagazins

Gründerin Denise Linke (26) fand ihr Redaktionsteam überwiegend über das Internet und über gemeinsame Bekannte. “Das war gar nicht schwer”, sagt sie. “Wenn man selbst an eine Idee glaubt, dann ist es leicht, andere Menschen dafür zu begeistern.” Doch Denise wollte auch andere Menschen, die mit dem Thema nicht vertraut sind, erreichen. Das gelingt zweifellos. Die Schilderungen der ProtagonistInnen sind zum Teil sehr persönlich, sie lassen den Leser sehr nah an sich heran, wenn sie zum Beispiel von ihren sexuellen Vorlieben erzählen. Auch wenn man die eine oder andere Abkürzung aus der Szene als “neurotypischer” Mensch recherchieren muss. Als Nichtbetroffene wird einem einmal mehr bewusst, dass AD(H)S keine Modekrankheit ist, mit dem jedes verhaltensauffällige Kind vorschnell diagnostiziert und mit Pillen ruhig gestellt wird. Genau das passiere allerdings viel zu oft, heißt es in einem Text.

Auch Leserin Juliane (37) bewegt die Frage nach der Diagnose. Sie hat selbst das Asperger-Syndrom und meint: “Der Artikel zu den getöteten autistischen Kindern ist mir extrem nah gegangen. Das war neu für mich.” Nach diesem Text mit grausamem Inhalt sollte man die Reportage über den kleinen Jungen Darius und seiner Mutter lesen. Darius ist Autist, er spricht nicht. Einfühlsam begleitet Denise Linke Mutter und Sohn ein Stück im täglichen Leben und schildert dabei die positiven Emotionen der beiden, aber auch die Ängste der Mutter um ihren Sohn. Sie macht sich Sorgen, wie das Leben ihres Sohnes verlaufen wird, wenn er einmal erwachsen ist und sie nicht mehr da ist.

Innenansicht ist wichtig

Beispiel einer Zeichnung im Nummermagazin. Zu sehen ist ein gezeichnetes anatomisches Menschenherz.

Eine Ilustration im Nummermagazin

Aleksander Knauerhase (40), bei Twitter als @QuerDenkender bekannt, hat sich das Magazin ebenfalls angeschaut. Er sagt: “Ich habe die Entstehung von N#mmer von Anfang an über Twitter verfolgt. Was Denise immer wieder über die Arbeiten und Fortschritte getwittert und berichtet hat, war faszinierend. Ich bewundere sie für die Energie mit der sie ihre Vision umgesetzt hat. Ich finde die Idee, ein Magazin für den Nischenbereich Autismus und ADHS zu machen, sehr gut. Vorallem auch, weil es eben Autisten sind, die hier über Themen rund um Autismus schreiben. Diese Innenansicht ist sehr wichtig. Sie weicht doch in vielen Punkten erheblich von der ansonsten kommunizierten Außensicht ab.” Aleksander findet, das N#mmer- Magazin komme genau in einer Zeit des Umbruchs. Es sei eine Zeit, die weg vom Bild des Autisten, der nicht für sich selbst sprechen kann, hin zum erwachsenen Autisten gehe, der immer mehr über Autismus schreibt.

Im Trend: Eigene Perspektiven auf Autismus zu beschreiben

Aleksander selbst bekam die Autismus-Diagnose erst sehr spät. Dies nahm er zum Anlass, einen Blog über die Entwicklungsstörung zu machen und sogar ein Buch zu schreiben. Gerade ist das Crowdfunding-Projekt dafür erfolgreich zu Ende gegangen. Er hat sich für die Book-On-Demand-Variante entschieden. “Die Zielgruppe für so ein Buch mag vielleicht nicht so groß sein, aber dafür waren meine Unterstützer umso leidenschaftlicher. Ich bin immer noch überwältigt, wie viele Menschen mich unterstützt und das Buch möglich gemacht haben.”

Deckblatt vom Nummermagazin. Eine Grafik zeigt einen Mann mit blonden Haaren, der in sein Handy "Es ist aus!" als SMS tippt. Neben ihm sitzt eine Frau.

Deckblatt vom Nummermagazin

Aber wie gewinnt man Menschen, die mit dem Thema nichts zu tun haben? Wie bringt man sie dazu, sich für das Thema Autismus zu interessieren? “Die Menschen sind eigentlich offen für das Thema. Man muss nur erst einmal einen Zugang zu ihnen bekommen. Zum einen interessiert das Thema nicht jeden. Zum anderen ist die bisherige Sicht über Autismus stark von solchen Stereotypen, wie dem Film “Rain Man” geprägt.” Aleksander ist anders und versucht so offen wie möglich mit dem Autismus umzugehen: “Sobald man sprechen kann und nicht verschlossen in der Ecke sitzt, wird man eben nicht mehr für einen Autisten gehalten. Dass dann jemand wie ich daher kommt und über Autismus erzählt, ist dann erst einmal ein Widerspruch für viele Menschen. Spätestens wenn sie dann aber merken, dass das, was ich zu erzählen habe, eben nicht schon zigmal in einem Buch stand oder bei anderen Fortbildungen zum Thema Autismus erzählt wurde, dann fangen sie an, sich zu öffnen.”

Auch Sascha Lobo spricht über ADS

Juliane hat sich auch Gedanken über die Vergleichbarkeit der Artikel gemacht: “Die Qualität der Artikel ist durchaus unterschiedlich, aber das mag ich. Weil es zeigt, dass hier nicht nur Profis über etwas schreiben, sondern unsereins selbst aus seiner Welt.” Es ist ein Magazin in den Kinderschuhen, das zum Beispiel keine Rücksicht auf Formatierungsfallen wie „Hurenkinder“ oder „Schusterjungen“ nimmt. Es sind meinungsstarke Artikel, die dem Leser aber trotzdem nichts aufzwängen und ihn nicht daran hindern, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Die Liebe als Thema wird nicht wie angekündigt stringent durchgezogen. Aber das ist unwichtig, denn der Inhalt der Artikel, die sich nicht mit dem vorherrschenden Thema befassen, ist mindestens genauso wichtig. Wie zum Beispiel der Artikel “Akademische Kuriositäten” von der Autorin Mela Eckenfels, der sich mit der aktuellen Autismus-Forschung auseinandersetzt. Dabei beklagt die Autorin, dass die Diagnose “Autismus” viel zu voreilig und viel zu oft gestellt werde. Die Internetikone Sascha Lobo kommt auch zu Wort. Im Interview spricht er über seine Diagnose ADS und wie er im täglichen Leben damit klarkommt.

Insgesamt ist N#mmer ein sehr lesenwertes Magazin, auf dessen inhaltliche Entwicklung ich gespannt bin. Die nächste Ausgabe erscheint im April. Dann heißt der Schwerpunkt “Medien & Kunst”. Das Magazin kann man unter https://nummer-magazin.de/ digital oder in Papierform bestellen.

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Titelbild: Andiweiland.de