Da wo viele Menschen versuchen, ihre eigene Behinderung vor ihrer Umgebung zu verstecken, setzt unsere Autorin Claudia Piplow auf “auffälliges Hören” und zeigt offen ihre grünen Hörgeräte. Mit dieser Taktik will sie Bewusstsein schaffen und Vorurteile gegenüber Hörbehinderungen abbauen. Warum es für hörbeeinträchtigte Menschen wichtig ist, selbstbewusst mit ihrer Behinderung umzugehen und wie die Werbung als großes Medium dazu beitragen kann, schreibt Piplow im dritten Teil der Leidmedien-Reihe “Bei einander Gehör finden”.
Meine Hörbehinderung ist eine unsichtbare Behinderung. Denn kaum jemand erkennt sie auf Anhieb. Als schwerhöriger Mensch einkaufen zu gehen ist ein klassisches Beispiel für das Erleben dieser Unsichtbarkeit: Wenn ich auf das Gesagte der Verkäuferin nicht reagiere, werde ich womöglich als arrogant wahrgenommen. Wenn ich nachfrage oder eine unpassende Antwort auf eine Frage gebe, erscheine ich als schwer-von-Begriff. Viele Menschen fragen mich, warum ich grüne Hörgeräte trage: “Damit ich auffalle”, ist meine Antwort. So wird meine Behinderung leichter erkannt und ich erhalte mehr Rücksichtnahme von meinem Umfeld, als wenn ich meine Hörbehinderung mit langen Haaren und mit kleinen hautfarbenen unscheinbaren Geräten kaschieren würde. Auffällig Hören versus unsichtbares Hören ist meine persönliche Strategie.
Unsichtbare Hörgeräte verstärken Stigma
Doch es gibt derzeit immer noch einen gegenläufigen Trend, der dafür sorgt, dass die Hörbehinderung noch unsichtbarer wird. Die Werbung. Was suggeriert sie uns? Nichthören wird in unserer Gesellschaft als Defizit, als Schwäche betrachtet und vor allem mit Altsein gleichgesetzt. „Wer gut hört, zählt zu den Gewinnern. “ – mit diesem Slogan wirbt Hörstudio Hörgeräte Fröhling für Siemens Hörgeräte. Und wer nicht gut hören kann, ist ein Verlierer?
Die Hörgeräte werden immer kleiner und unauffälliger, ja sie verstecken sich geradezu im Ohr und erschweren vor allem alten Menschen die Handhabung und Bedienung. Akustiker und Hörgeräte-Firmen versprechen öffentlich mit ihren Botschaften „Hören 100% unsichtbar zu machen“ .
Werbeslogans wie „Die ‚Kontaktlinse fürs Ohr‘ erfüllt den Traum vom unsichtbaren Hörgerät“ und „Niemand sieht, wie gut Sie hören“ zeigen deutlich die Angst vor Vorurteilen und ästhetische Beweggründe, um nach diskreten Hörlösungen zu suchen. Das Gefühl, es sei nicht “schick”, Hörgeräte zu tragen, manifestiert sich damit unbewusst in den Köpfen unserer Gesellschaft. Solche Slogans begünstigen das “Verstecken” der Hörbehinderung und minimieren das Problembewusstsein im Umgang mit einer Hörbehinderung, sowohl bei schwerhörigen als auch bei hörenden Menschen – denn „Niemand sieht, wie schlecht sie hören“.
Angeblich ist das aber gar kein Problem. Denn Phonak verspricht mit seiner Mission “Life is on. Mühelose Interaktion. Grenzenlose Kommunikation. Leben ohne Kompromisse.“ weltweit führende Hörlösungen. Doch die Wahrheit für schwerhörige Menschen ist, schlecht hören können bedeutet mühevolle Interaktion. Die Kommunikation hat Grenzen. Und ich muss Kompromisse machen – auch mit den besten Hörgeräten der Welt.
Eine ganz wichtige Sache verschleiert uns die Werbung: Sie unterscheidet nicht zwischen Hören und Verstehen. In den Slogans ist meistens von “wieder gut hören” die Rede. Ich höre mit meinen Hörgeräten nahezu alles, aber das heißt noch nicht, dass ich damit alles verstehen kann. Das ist in etwa so, wie unscharf sehen trotz Brille. Ich sehe alles, nur nicht klar erkennbar. Mit dieser Form von Augenwischerei – genau genommen “Ohrenwischerei” – bekomme ich als schwerhöriger Mensch den Eindruck, dass für die Werbung nur technische Innovation zählt. Sie lässt dabei außer Acht, dass es Tricks und Training braucht, um eine möglichst reibungsfreie Kommunikation zu ermöglichen.
Typisch schwerhörig! Kommunikationsworkshops gegen Vorurteile

Claudia Piplow, Kommunikationsworkshop für schwerhörige und hörende Berufstätige
In den Kommunikationsworkshops, die ich für Menschen mit Hörbehinderung anbiete, stelle ich durch die Rückmeldung immer wieder fest, dass es nicht besonders attraktiv erscheint, sich seinem Gegenüber als schwerhörig zu outen. Schwerhörige Menschen sind einer Reihe von Stigmatisierungen ausgesetzt und erleben sie nahezu tagtäglich. Auch wenn sie nicht direkt ausgesprochen werden. Doch ich spüre, was mein Gegenüber von mir denken könnte: „Du hast eine lange Leitung“, „Es ist anstrengend mit dir zu reden.“, „Du hörst nur, was du hören willst“, „Oft muss man dir alles zweimal sagen“, „Was du nicht hören sollst, hörst du, aber was du hören sollst, hörst du nicht!”. Schwerhörigen Menschen wird in Kommunikationssituationen oft vermittelt, eine “Belastung” für die Umwelt zu sein. Dies führt zwangsläufig zu einem negativen Selbstbild und erzeugt noch mehr Unsicherheit, auf beiden Seiten. Diese Unsicherheit wird durch die Unsichtbarkeit der Hörbehinderung noch weiter verstärkt. Und genau diese Unsicherheit zwischen hörenden und schwerhörigen Menschen ist es, wodurch die Kommunikation und dadurch auch die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen erschwert werden.
Verstecktaktik von schwerhörigen Menschen
Doch noch viel wichtiger als Hörtechnik ist, was hörbehinderte Menschen von sich selbst denken. Dies beeinflusst ihr Handeln bzw. ihren Umgang mit der eigenen Hörbehinderung und somit den Erfolg in der Kommunikation maßgeblich. Die Erfahrung in den Workshops und im Austausch miteinander zeigt, dass viele schwerhörige Menschen in Gesprächen mit hörenden Menschen unbewusst destruktive Kommunikationsstrategien einsetzen, sogenannte „Verstecktaktiken“. Sie spüren einen enormen Anpassungsdruck, wollen dazugehören und dem Gefühl „mittendrin zu sein“ näher kommen. In ihrer Strategienwahl sind sie ziemlich kreativ: sie verschweigen ihre Hörbehinderung, reißen das Gespräch an sich, um nicht zuhören zu müssen; nicken, lachen, obwohl sie nichts verstanden haben oder erscheinen unbeteiligt und halten sich aus der Kommunikation raus.
Wende ich Verstecktaktiken an, so hat dies nur kurzfristig Wirkung und frustriert mich am Ende doch. Die Interaktion mit meinem Gegenüber ist nicht authentisch. Ich entwickle damit eine Scheinidentität und führe eine Scheinkommunikation. Schwerhörige Menschen berichten mir häufig, dass sie sich in der Kommunikation mit hörenden Menschen isoliert fühlen und nur „dabei“ sind. Doch wie schaffen sie es, mehr „mittendrin“ zu sein?
Mit Hör- und Kommunikationstaktik zur gelungenen Kommunikation
Jochen Müller zeigt in seinem Kommunikationsmodell, wie es schwerhörigen Menschen gelingt, aus der Verstecktaktik auszusteigen bzw. konstruktive Kommunikationsstrategien anzuwenden. Der Einsatz von Hörtechnik (Hörgeräte, FM-Anlagen) allein reicht nicht aus. Ein Hörproblem ist viel komplexer und wird durch vielfältige Faktoren, wie Störgeräusche, Lichtverhältnisse, Raumakustik, Mundbild, Gruppenkommunikation, formelles oder informelles Gespräch beeinflusst. Hören und Verstehen sind zusammengenommen eine hochkomplexe Aufgabe für schwerhörige Menschen. Während die hörende Person weiterspricht, muss die schwerhörige Person hören, absehen, beobachten, speichern, kombinieren, deuten und verarbeiten. Die „5 goldenen Sätze“ zur Aufklärung des Gegenübers helfen weiter: “Bitte schauen Sie mich beim Sprechen an.”, “Ich muss vom Mund absehen.”, “Bitte sprechen Sie langsam und deutlich.” und “Bitte benutzen Sie kurze Sätze.”
Die Werbung suggeriert schwerhörigen Menschen durch unauffällige Hörgeräte wieder vollwertig mittendrin im Leben zu sein. Darin besteht eine enorme Diskrepanz zwischen dem Verstecken und dem offensiven Umgang mit der eigenen Hörbehinderung. Denn schwierig wird es, wenn sich schwerhörige Menschen nur auf die Hörgeräte-Technik verlassen. Was passiert, wenn ungünstige Bedingungen das Verstehen trotz guter Hörgeräte erschweren? Störende Nebengeräusche (Nachhall von Wänden, Lärm, Stimmengewirr aus der Ecke). Dann besteht die Gefahr, wieder in alte Muster, die Verstecktaktik zu verfallen. Dies führt unweigerlich zu Überforderung und Frustration in Gesprächen. Nicht selten wird das Misslingen auf sich selbst persönlich bezogen und schürt Minderwertigkeitsgefühle. Daher sind eine bewusst eingesetzte Hör- und Kommunikationstaktik wichtige Brückenpfeiler für eine gut funktionierende Interaktion mit hörenden Menschen. Der Bauingenieur bzw. Experte für diese Kommunikationsbrücke ist der schwerhörige Mensch selbst.
Sichtbare Hörgeräte, junge Leute, Alltag
Jeder Mensch möchte an der sozialen Interaktion vollständig teilnehmen. Es ist uns Menschen ein tiefes Bedürfnis wohltuende, positive, zwischenmenschliche Beziehungen zu erfahren, aktiv zu gestalten und vor allem dazuzugehören! Darum wirkt die auf “gutes und unsichtbares Hören” ausgerichtete Werbung so skurril. Dabei liefert die Werbung als großes Medium liefert die Möglichkeit, Vorurteile gegenüber schwerhörigen Menschen abzubauen, indem sie eine unsichtbare Behinderung sichtbar(er) macht. Bei ihr liegt die bisher noch ungenutzte Chance, das Image von Hörgeräten allgemein zu verbessern und dadurch die Anwendung von Verstecktaktiken ein Stück weit zu minimieren. Diese Sichtbarkeit – auch von jungen Leuten mit Hörgeräten im Alltag in der Werbung – schafft Nähe und liefert den Nährboden für Verständnis und Akzeptanz. Das würde zum einen dazu führen, dass schwerhörige Menschen selbstbewusster und offensiver im Umgang mit ihrer Hörbehinderung auftreten. Zum anderen ermöglicht sie hörenden Menschen, sicherer im Umgang mit schwerhörigen Menschen zu werden.
Titelbild: Quelle www.phonak.com
Chapeau! Endlich mal die Hörgeräte-Wirtschaft an ihren eigenem Anspruch zu messen, anstatt „nur“ das Problem Hörbehinderung zu beschreiben und wie schwer es doch die Hörbehinderten haben. Dass die Werbeversprechen größtenteils unhaltbar sind ist das Eine. Aber dass die Werbung durch suggerieren eines ästhetischen Makels den es zu verstecken gilt, den selbstbewusstem Umgang mit der Hörbehinderung erschwert, finde ich verwerflich.
Toller Eintrag, dem ich voll und ganz zustimme!
Nun gut, die Hörgeräte-Hersteller. Dies sind natürlich gewinnorientierte Konzerne und Werbung zielt nun mal darauf ab, das Positive zu überhöhen und zu verklären. Das ist ja generell so. Zumal in diesem Bereich wirklich viel Geld verdient wird. Niemand glaubt an ein Wunder bei Faltencrèmes, auch wenn es in der Werbung so makellos daherkommt.
Anyway: was mich noch viel mehr stört, sind die Akustiker welche dann diese ganzen Versprechen quasi eins zu eins weiterplappern und den grossen Reibach machen. DIE müssten eigentlich viel mehr aufklären und uns „Schlappohren“ unterstützen. Den meisten geht es ja nur ums Gerät und die Technik… „So Herr Meier, schönes Gerät haben wir da nun für Sie angepasst, jetzt hören Sie sogar noch besser als Normalhörende… wie Sie sich selbst noch weiterhelfen können, müssen Sie selber rausfinden, bye“. Das obige Beispiel des Hörstudios ist ja wirklich ziemlich daneben. Und genau diese Anspruchshaltung bringt uns dann noch mehr unter Druck.
Neulich beim Optiker (eine grossen Kette, welche auch Hörgeräte im Angebot hat): Da war ich um eine Brille anzupassen, es hatte sehr viele Leute im Laden, der Lärmpegel sehr hoch, der Verkäufer mir unbekannt und mit einer für mich ungünstigen Stimmlage. (meine Hörgeräte sieht man sehr gut, pechschwarze Ohrpassstücke, schwarze Schläuche) „Wie, sie verstehen mich nur schlecht in dem Lärm? Na da sind ihre Hörgeräte wohl falsch eingestellt, sollen wir mal gucken? Danach hören Sie bestimmt viel besser!“ Nein mein Herr, ich trage schon seit Jahr und Tag Hörgeräte, ich weiss genau, welche Situationen für mich kritisch sind. Ich konnte schon beinahe in seinem Gesicht lesen, was er denkt: „oh, der arme Depp hat Hörgeräte für 4000.- und ist immer noch schwerhörig.“
Ich finde dein Vorgehen, sehr offensichtlich ein Hörgerät zu tragen total sinnvoll. Es sollte niemandem peinlich sein. Vielen Dank, dass du als positives Beispiel fungierst. Meiner Großmutter ist ihr Hörgerät unangenehm. Sie trägt es dann oft nicht, bekommt dafür aber nichts mit.