Das Leben im Rollstuhl auszuprobieren liegt im Trend. In der ARD wurde es getestet, auf Sat.1 und RTL ebenso. Gut, dass sich dem Thema angenommen wird. Allerdings bedienen einige Reporterinnen und Reporter gängige Klischees. Judyta Smykowski, Journalistin und Rollstuhlfahrerin, hat sich die Sendungen mal genauer angeschaut.
Eine Behinderung auszuprobieren, ist im Fernsehen so beliebt geworden wie Kochshows, Casting-Shows und DIY-Shows. Erst vor kurzem machten es die Entertainer Joko und Klaas: Sie waren blind und taub beim Comedypreis. Auch das Leben einen Tag im Rollstuhl wird hierzulande von vielen Journalistinnen und Journalisten ausprobiert. In letzter Zeit machten dies Eckhard von Hirschhausen in seiner Sendung „Hirschhausens Quiz des Menschen“, die Akte 20.14-Reporterin Franziska auf Sat.1 und Jenke von Wilmsdorff in seiner Sendung „Das Jenke-Experiment” auf RTL. Die Spanne, für die sie sich in den Rollstuhl setzten, war ein Nachmittag, 48 Stunden sowie fünf Tage.
Warum wollen die Zuschauer solche Experimente sehen?
Die Reporter offenbaren ziemlich schnell, was sie über ihre Situation im Rollstuhl denken. Jenke von Wilmsdorff gibt in seiner Reportage zu, dass er sich dem Experiment auf vielfachen Wunsch von Zuschauern unterzieht. Er lässt durchblicken, dass es sich dabei auch um Zuschauer im Rollstuhl handelt. Wollen sie auf ihre Situation, ihr Leben aufmerksam machen? Fühlen sie sich zu wenig von der medialen Öffentlichkeit und der Gesellschaft repräsentiert? Oder wollen jene Zuschauer den gut trainierten Mann auf einer Anhöhe im Park mit dem Rollstuhl scheitern sehen? Vielleicht eine Mischung aus allem. Von Wilmsdorff spricht bedächtig und ruhig, seine Stimme klingt tief und ernst, während ihm die Schiene, die im die Bewegungsfreiheit nehmen soll, angezogen wird. Vielleicht schwingt da der Respekt mit, den der RTL-Reporter vor Menschen, die mit Rollstuhl unterwegs sind, hat.
Die Einstellung der Sat.1-Reporterin Franziska scheint eine andere zu sein. Genauso wie von Wilmsdorff bekommt sie eine Schiene an die Beine, die die Unbeweglichkeit von gelähmten Beinen simulieren soll. Diesen Besuch beim Arzt zelebriert sie beängstigt und schlecht gelaunt. Bereits in den ersten Minuten im Rollstuhl fühlt sie sich erniedrigt und das nicht nur in ihrer Sichthöhe. Sie trifft – wie von Wilmsdorff und Hirschhausen auch – eine geübte Person im Rollstuhl. Die Rollstuhlbasketballerin Anni Gerwinat zeigt ihr praktische Tipps am Auto und Kunststücke mit ihren vier Rädern. Interessanter Weise lässt die Journalistin die Gelegenheit ungenutzt, mit dem Rollstuhl zu experimentieren und dabei Spaß zu haben.
Eine Rollstuhlfahrerin muss unglücklich sein
Es ist sicher sinnvoll, während des Experiments verschiedene Perspektiven einzunehmen – die von Anfängern und von Profis im Rollstuhl, wie von allen Reporterinnen und Reportern auch gemacht. Unsicherheiten können so direkt besprochen und Vorurteile abgebaut werden. Doch im „Jenke-Experiment“ ist es fraglich, ob z.B. die Perspektive eines Mannes, der gerne Rollstuhlfahrer wäre und sein Bein amputieren lassen will, wirklich zum Abbau von Unsicherheiten beiträgt. Diese Person hätte von Wilmsdorff auch in einer Sendungen über psychische Krankheiten interviewen können.
Zudem bedient der RTL-Reporter die typischen Vorurteile, dass ein Leben nach einem schweren Unfall im Rollstuhl ein trauriges sei. Das Exempel statuiert er an einer jungen Frau, die seit ihren Teenagerjahren im Rollstuhl sitzt. Bereits im Vorspann wird Carolin Fischer als jemand dargestellt, der sehr mit dem Schicksal hadert. Dabei erfährt man, dass sie sich selbst an RTL gewandt hat, um das Leben im Rollstuhl vor der Kamera zu erklären. Dass sich im Laufe der Sendungen herausstellt, dass die junge Frau ein glückliches Leben mit Job und Partner führt, dass sie eine Familie gründen möchte, ist leider zunächst nebensächlich. Sie wird über ihren Unfall gnadenlos ausgefragt. Auch ob sie sich damals das Leben hätte nehmen wollen. Die Fragen an sie wollen suggerieren, dass sie unglücklich sein muss. Sie denkt nach, aber lächelt weiterhin. Weil sie glücklich ist, wird sie als „stark“ bezeichnet.
Praktische Tipps statt Gefühlsduselei
Eckhard von Hirschhausen hingegen geht seinen Selbstversuch mit einer anderen Einstellung an. Er ist weder gefühlsduselig, mitleidig noch gekünstelt positiv. Er möchte den Tag mit seinem Begleiter, dem Profisportler Florian Sitzmann bestreiten. Die beiden Männer fahren im Rollstuhl nicht an Plätze, die unüberwindbare Barrieren haben, wie zum Beispiel der Bahnhof Köln-Deutz im Jenke-Experiment. Die beiden wollen in einer Bar etwas trinken gehen. Endlich wird auch mal eine positive Alltagssituation gezeigt, die einen Austausch zwischen Rollstuhlfahrern und Fußgängern möglich macht. Dabei bemerkt Hirschhausen natürlich die Treppenstufen vor den einzelnen Cafés. Doch Sitzmann weißt ihn auf die App „Wheelmap“ hin. Damit kann man spontan rollstuhlgerechte Orte verschiedenster Art auf einer digitalisierten Landkarte erkennen. Hirschhausen selbst beschreibt sein Gefühl im Rollstuhl. „Der zieht nach links“ meint er. Es geht um das Rollstuhlfahren, nicht um die Blicke oder Vorurteile der Passanten. Auch Kopfsteinpflaster fällt ihm negativ auf. Am Ende des Tages bedankt sich Hirschhausen bei Sitzmann für die Erfahrung im Rollstuhl.
Die wiedergewonnene Freiheit zelebrieren
Das Ende beim Jenke-Experiment fällt auf den Besuch des Deutschen Fernsehpreises. Er möchte testen, ob diese prestigeträchtige Veranstaltung barrierefrei ist. Sie ist es, denn als die Veranstalter vom Rollstuhl erfahren, disponieren sie schnell um und bieten Jenke einen stufenfreien Zugang an. Doch die Party nach der Veranstaltung möchte Jenke dann doch als gehender und tanzender Mensch erleben. Die eingerosteten Muskeln wieder locker tanzen. Die Befreiung vom Rollstuhl verdient eine angemessene Inszenierung. Er steht mitten auf dem roten Teppich auf, um die Rückkehr in sein altes Leben gebührend zu feiern. Auch seine Kollegin bei Sat.1 muss den Moment nach den 48 Stunden im Rollstuhl auskosten. Sie macht „jetzt erst mal einen langen Spaziergang“.
Was bleibt beim Zuschauer hängen?
Warum haben die Reporterinnen und Reporter dieses Ende für ihr Experiment gewählt? Wollen sie etwa sicher gehen, dass die Zuschauer wissen, dass alles nur gestellt war und sie jetzt nicht wirklich an den Rollstuhl „gefesselt“ bleiben? Oder einfach nur zeigen, dass man als gehender Mensch jede Sekunde genießen sollte, da es auf einen Schlag auch anders kommen kann? Es ist gut zu sehen, dass sich die Sender des Themas Behinderung und Barrierefreiheit annehmen. Aber es bietet doch eigentlich viel mehr als nur das subjektive Gefühl eines nicht behinderten Menschen mit einer kurzfristigen Einschränkung.
Warum das Thema nicht nutzen, um auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen? Dass es eben noch nicht zu jeder Bar einen stufenlosen Eingang gibt, nicht jede Schule barrierefrei ist. Und dass viele nicht behinderte Menschen immer noch Berührungsängste zu Menschen mit Behinderungen haben, weil sie einfach nicht zusammen, sondern nebeneinander in Parallelwelten aufwachsen.
Den Zuschauern wurde mehr als deutlich gezeigt, dass ein Leben mit Rollstuhl andere Anforderungen mit sich bringt. Ob ihnen aber auch klar wurde, dass es auch immer anders geht und gehen muss, und dass Rollstuhlfahrer nicht nur weinerliche, sich bemitleidenden Geschöpfe sind, wenn mal kein Fahrstuhl vorhanden ist, ist leider nicht sicher. Ich wünsche mir Sendungen, die auch zeigen, wie wir unser Zusammenleben verschönern können. Die zeigen, dass ein Leben mit Rollstuhl auch heißen kann, einer befriedigenden Arbeit nachzugehen, einen liebevollen Partner zu haben und wie Leute ohne Behinderung einfach Alltag zu erleben.
2006 war die Diagnose MS. 2009 bekam ich meinen ersten Rollstuhl. Ich habe kein Problem damit, denn es ist nur ein nützliche Hilfe, da ich mene Beine nicht mehr koordinieren kann.
Ich kann halt nicht mehr laufen, so wie andere nicht Eislaufen, Ski-Fahren oder Tanzen können.
Was mich stört ist, dass viele Menschen nicht damit zurecht kommen, dass ich Rollstuhl fahre. Ich bin doch deshalb nicht geistig behindert und sabbere den ganzen Tag vor mich hin, Ich habe keine ansteckende Krankheit, ich pisse mir nicht in die Hose und ich werde an meiner MS nicht sterben. Ich bin noch immer ganz normal, kann nur etwas nicht, so wie die meisten anderen: LAUFEN – so wie viele andere nicht schwimmen können. Doch das sieht man nicht gleich. Analphabethen können sich ja auch oft ein ganzes Leben verstecken. Das geht bei mir nicht – doch ich bin doch ganz normal. Reise gerne, fahre Auto, fliege nach Asien und auch rund um die Welt. Alles kein Problem.