Seit alle „Inklusion!” rufen, wird es Zeit zu schauen, was Behinderung eigentlich mit jemandem zu tun hat, der nicht behindert ist. Eine kritische Selbstbetrachtung von Lilian Masuhr.

„Alle Menschen sind behindert – aber wir wissen es wenigstens”, sagt Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Ist ja schön, dass über die neue „Inklusion” all die Menschen, die vorher mehr oder weniger ignoriert wurden, nun auch am Leben der anderen teilhaben können. Aber was hat Behinderung eigentlich mit mir zu tun? Okay, später einmal werde ich überlegen, ob ich meine Kinder nicht auf eine exklusive, sondern auf eine inklusive Schule schicke. Nein, vorher noch nachdenken, ob ich auch ein behindertes Kind auf die Welt bringen würde. Auf der Arbeit soll es wohl demnächst auch KollegInnen mit Behinderung geben – aber letztlich bleibt’s ja Chefsache, ob überhaupt behinderte MitarbeiterInnen eingestellt werden. Bis dahin staune ich weiter beim Blick in die Zeitung, was behinderte Menschen alles so in ihrem Leben „meistern”. Und, dass der Bundestag sie tatsächlich auch zur Veranstaltung „Menschen mit Behinderung” empfängt.

Irgendwie scheinen die Medien allgemein vermehrt über behinderte Menschen zu berichten. Erst gingen alle ins Kino für „Ziemlich beste Freunde”, dann liefen im Sommer die Paralympics auch mal größer als sonst und jetzt bringt Samuel Koch sein Buch raus. Plötzlich fällt mir auch im Stadtbild auf: Es gibt schon ne ganze Menge an Leuten, „die es wenigstens schon wissen”. Hier eine Rollstuhlfahrerin, dort ein Mann, der humpelt. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass Menschen vor allem durch die Gesellschaft behindert werden – und es nicht einfach so sind. Mhm, hab ich noch nicht so drüber nachgedacht. Ich kann schließlich in jedem Café der Stadt mein Heißgetränk genießen, ohne die Stufen davor auch nur zu bemerken.

Die minimalen Einschränkungen

Doch nach Schäubles Credo ist da plötzlich etwas, das mich irritiert. Es ist… meine neue Brille! Es sind die ziemlich dicken Gläser mit der schönen Fassung. Ein sichtbares Zeichen meiner Kurzsichtigkeit! Ja, ich erkenne ihn nun, meinen „Schatten”, die Seite meiner Persönlichkeit, die nach Psychiater C. G. Jung lieber im Unbewussten geblieben wäre. So kann ich gar nicht anders, als diese Sehschwäche wieder zu verstecken und mir wie früher Kontaktlinsen in die müden Augen zu drücken. Ich verlasse morgens das Haus in hochhackigen Schuhen, und fluche abends über schmerzende X-Beine und Hohlfüße, die minimalen Einschränkungen. Das Sichtbare wird spürbar, ich unterdrücke die Schmerzen. Nur eine falsche Eitelkeit, um „gesund” zu wirken?

Was soll’s, Beine hochgelegt und den Fernseher an. Der Hollywoodfilm wie die Vorabendserie zeigen mir sofort: Es ist doch klar, wer hier das hässliche Entlein ist! Dieses Ungeschminkte, im Schlabberlook, mit fettigen Haaren – und Zahnspange! Da fährt meine Zunge über meine Zähne, die nur noch eine vage Ahnung davon haben, wie es sich anfühlte, mit 14 Jahren verdrahtet zu sein. Die Zahnspange liegt ja erst im Trend, seit Tom Cruise  und Justin Biber damit lächeln. Auch die Brille ist jetzt ein Statussymbol. War sie vor zehn Jahren bei TV-Moderatoren durchweg randlos – trägt Jan Hofer die Brille mit Rand in der Tagesschau heute sichtlich selbstbewusst. Und was hindert mich, zu meinem „Konstruktionsfehler“, dieser angeborenen Zahn-Fuß-Seh-Schwäche zu stehen? Oder: Was gilt in unserer Gesellschaft eigentlich als sichtbare Schwäche?

Die Grenze zwischen „behindert” und „nicht behindert”

Es ist irgendwie normal, den großen Mann auf seine Größe anzusprechen, während Kinder nicht mit dem Finger auf einen kleinwüchsigen Mann zeigen sollen. Ignorieren wir vielleicht zu oft die Depression oder Magersucht unserer Nächsten, weil wir alle mal in einer Depri-Phase oder auf Diät sind? Kümmern wir uns aus Unsicherheit etwa nicht genügend um die Förderung autistischer Kinder, und lassen Allergiker eben zu Hause, wenn es in den Park geht? Auch wenn Behinderung eigentlich definiert ist als eine „länger als sechs Monate lange für das Alter untypische körperliche / geistige / seelische Beeinträchtigung“ – wo liegt sie denn, die Grenze zwischen „behindert“ und „nicht behindert“?

Manche Menschen mit Behinderung sind „zu behindert“, um in eine geeignete Schule oder einen Beruf zu wechseln – andere „zu wenig behindert“, um unterstützt zu werden. Und dennoch: Auch wer einen Behindertenausweis besitzt, hat noch längst keine Garantie darauf, in jedes Café reinzukommen. Es bleibt ein Machtdiskurs der Hilfsmittel: Während die Brille immer mehr gesellschaftlich akzeptiert ist, bleibt der Rollstuhl leider oft ein Problem. Zu viel Raum nimmt die Fortbewegung ein, zu flach muss der Eingang gebaut werden, und nebenbei bemerkt: „Wo sollen denn dann die Kinderwagen hin?”.

Von der „Rollstuhldimension” zum Knall

Dabei denken nach Sascha Lobo viele nicht behinderte Menschen bei Menschen mit Behinderungen doch direkt nur an RollstuhlfahrerInnen, also in „Rollstuhldimensionen”! Aber: um sich selbst nicht behindert zu fühlen. Bis sie schließlich die eigenen kleinen Einschränkungen entdecken. Wenn Rollstuhlfahrer wegen fehlender Rampen immer in das gleiche Café fahren, ist das wohl so, als ob ich jeden Tag das gleiche Outfit tragen müsste. Es gibt nur eine kleine Auswahl. Wenn behinderte Kinder nur auf Sonderschulen gehen, ist das wohl so, als ob ich nur noch ausgewählte oder zensierte Filme sehen dürfte. Es gibt zwar Bildung, aber nur begrenzt.

Ich denke es wird Zeit, dass wir unsere eigene „Normalität” hinterfragen – so wie Oliver Sacks es schon 1985 in seinem Roman „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte” tat. Denn solange behinderte Menschen in ihrer Situation als „Fremde“ verstanden werden, mit denen man irgendwie auskommen muss, und nicht behinderte Menschen sich weigern, sich mit dem Thema Behinderung „vertraut“ zu machen – solange also die eigenen „Einschränkungen” ignoriert werden, bleibt es nur bei der weit verbreiteten, theoretischen Inklusion. Das kann mir doch nicht passieren! Ich hindere doch niemanden und bin auch nicht behindert! „Doch”, sagt Nico von Glasow, selbst Regisseur mit Contergan-Schädigung, und attestiert mir eine  „innere Behinderung”: einen Knall.

Titelbild: Sophie Burtsch / www.jugendfotos.de „Rotlicht“, CC-Lizenz(by-nc)