Wie nutzen Menschen mit Behinderung die Medien? Welche Barrieren gibt es? Warum es wichtig ist, dass auch eine „Quatschsendung“ wie „Bauer sucht Frau“ barrierefrei verfügbar ist, erklärt Co-Autorin Anne Haage.

Das Fernsehen ist das am weitesten verbreitete und am häufigsten Medium. Bei Radio, Tageszeitung und Internet unterscheidet sich die Häufigkeit der Nutzung je nach Beeinträchtigung und Alter. Das ist ein wesentliches Ergebnis der Studie zur Mediennutzung von Menschen mit Behinderungen (MMB 16), die die Fakultät für Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund und das Hans-Bredow-Institut durchgeführt und Ende 2016 veröffentlicht haben.

„MMB 16“ ist die erste größere Studie in Deutschland, die die allgemeine Mediennutzung von Menschen mit Behinderungen untersucht und nach Barrieren und Bedarfen im Fernsehen gefragt hat. Bisherige Studien haben sich meist auf eine Auswahl an Medien und/oder Arten von Beeinträchtigungen beschränkt. Gefördert wurde sie von den Medienanstalten und Aktion Mensch. Neben Expert*inneninterviews und Gruppendiskussionen wurden in der Studie 610 Menschen mit Beeinträchtigungen in persönlichen Interviews befragt. Es wurden vier Teilgruppen geschaffen, da sich die Barrieren und Bedarfe je nach Art der Beeinträchtigung unterscheiden.  Die vier Teilgruppen sind:

– Menschen mit Sehbeeinträchtigungen/Blindheit,
– Menschen mit Hörbeeinträchtigungen/Gehörlose,
– Menschen mit körperlich-motorischen Beeinträchtigungen und
– Menschen mit Lernschwierigkeiten.

 

Auch „Bauer sucht Frau“ und Werbung untertiteln

Menschen mit Beeinträchtigungen sind eine heterogene Gruppe, auch in Bezug auf die Mediennutzung, deshalb lassen sich auch nur wenig sinnvolle Gesamtaussagen machen. Der hohe Stellenwert des Fernsehens ist eine davon. Der Anteil derjenigen, die mindestens mehrmals in der Woche fernsehen, ist etwas höher als in der Gesamtbevölkerung. Das gilt für alle Teilgruppen, nur unter 50-jährige Befragte mit Seh- oder mit Hörbeeinträchtigungen schauen leicht unterdurchschnittlich fern, vor allem blinde bzw. gehörlose Befragte. Das ist kein Wunder, denn sie stoßen auf besonders viele Barrieren, gibt es doch nur vergleichsweise wenige Sendungen mit Audiodeskription im Fernsehen und noch weniger Sendungen mit Gebärdensprach-Dolmetschung.

Das Spektrum an beliebten Sendungen ist breit und damit auch das Spektrum an Sendern, ob öffentlich-rechtlich oder privat. Für mehr als zwei Drittel der Befragten spielt Barrierefreiheit neben inhaltlichen Fragen eine wichtige Rolle, wenn sie ihr Fernsehprogramm auswählen. Das schränkt ihre Entscheidungsfreiheit erheblich ein, was besonders blinde und gehörlose Befragte in den Gruppendiskussionen bzw. Expert*innen-Interview betonten. Die gleichberechtigte Teilhabe an Medien und Kommunikation darf sich nicht auf öffentlich-rechtliche Programme oder auf Information beschränken. Unterhaltung gehört genauso dazu wie Werbung. So forderten Teilnehmer*innen in Gruppendiskussionen auch „so Quatschsendungen wie Bauer sucht Frau“ zu untertiteln, weil sie mitreden wollen. Auch Werbung soll barrierefrei angeboten werden. Deshalb reicht es nicht aus, wenn vor allem öffentlich-rechtliche Sender ihr Angebot an barrierefreien Sendungen ausbauen, auch die privaten Sender sind gefordert. Der Markt dafür ist da.

 

Mangelhafte Sprachverständlichkeit im Fernsehen

Barrieren unterscheiden sich natürlich je nach Beeinträchtigungen. Über alle Teilgruppen hinweg wurde jedoch die mangelhafte Sprachverständlichkeit im Fernsehen kritisiert. Das Verhältnis von Sprache, Hintergrundgeräuschen und Musik, die undeutliche Aussprache von Protagonisten sowie Durcheinanderreden und Tonschwankungen werden quer durch alle vier Teilgruppen kritisiert. Bereinigte Tonfassung (clean audio) könnten helfen – natürlich auch Untertitel. Befragte mit Sehbeeinträchtigungen fordern mehr Sendungen mit Audiodeskriptionen und ein breiteres Spektrum an Formaten mit Audiodeskription. Bisher werden vor allem Spielfilme, Serien und Magazine im öffentlich-rechtlichen Fernsehen mit Audiodeskription ausgestrahlt.

Besonderen Nachholbedarf hat das deutsche Fernsehen im Punkto Gebärdensprach-Dolmetschung. Die Befragten fordern auch hier mehr Sendungen und ein breiteres Spektrum an Formaten mit Gebärdensprach-Übersetzung. Öffentlich-rechtliche Sender bieten manche Magazine und Talkshows wie „Die Sendung mit der Maus“, „Hart, aber fair“ oder „Quarks & Co“ im Internet mit Gebärdensprache an. Das reicht nicht aus, die Gebärdensprache gehöre ins lineare Fernsehen, darüber waren sich die gehörlosen Teilnehmer_innen der Gruppendiskussion einig. Man müsse gemeinsam mit Hörenden fernsehen können, außerdem fördere das die Sichtbarkeit und Akzeptanz von Gebärdensprache in Deutschland.

Mediatheken werden wenig genutzt

Dafür, dass barrierefreie Sendungen ins lineare Fernsehen gehören und nicht nur ins Internet, spricht auch die relativ geringe Nutzung von Mediatheken. Nur zwischen sieben und 14 Prozent der Befragten der Teilgruppen gaben an, Mediatheken im Internet zu nutzen. Die übergroße Mehrheit schaut über stationäre Geräte fern, Computer, Tablets oder Smartphones spielen nur eine geringe Rolle. Auch Fernsehgeräte mit Internetanschluss sind unter den Befragten deutlich weniger verbreitet als in der Gesamtbevölkerung. Nur knapp 14 Prozent gaben an, im Haushalt Zugang zu haben.

Mehr Barrierefreiheit im Fernsehen und eine bessere Information über barrierefreie Sendungen, auch dies war ein Tenor quer durch alle Teilgruppen. Offenbar ist es nicht einfach, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, welche Sendungen mit Untertiteln, Audiodeskription oder Gebärdensprachdolmetschung ausgestrahlt werden. Natürlich müssen auch diese Informationen barrierefrei zugänglich sein.

Internet wird unterdurchschnittlich genutzt

Differenziert wird die Mediennutzung bei Internet, Radio und Tageszeitung. Das Alter und die Art der Beeinträchtigung hat Einfluss auf die Internetnutzung. So gehen deutlich weniger Befragte der Altersgruppe 50+ regelmäßig ins Internet (55%)  als unter 50-Jährige (71 %). Für alle Altersgruppen gilt jedoch: Weniger Befragten nutzen regelmäßig das Internet als der Durchschnitt der Bevölkerung. Eine Ausnahme bilden hörbeeinträchtigte Befragte (95 Prozent der unter 50-Jährigen und 61 Prozent der Altersgruppe 50+). Besonders niedrig ist hingegen der Anteil bei den Befragten mit Lernschwierigkeiten (51% der jüngeren und 45 % der älteren Befragten). Auch gehören nur 55 Prozent der blinden Befragten zu den regemäßige Internetnutzer*innen.

Während bei den blinden Befragten wahrscheinlich Barrieren ein zentraler Grund für die geringere Internetnutzung sind (siehe Beitrag von Heiko Kunert), spielen bei Menschen mit Lernschwierigkeiten auch die Lebensbedingungen und fehlende Unterstützung durch das Umfeld eine wichtige Rolle. Befragte, die in Wohnheimen oder –gruppen leben, haben deutlich seltener Zugang zu Computer und mobilen Medien als in Privathaushalten (Smartphone: 33 % Wohnheim, 49% Privathaushalt; Tablet 22 % Privathaushalt, 7% Wohnheim; Computer/Laptop: 66% Wohnheim, 53% Privathaushalt). Insgesamt zeigte sich, dass die Ausstattung mit mobilen Medien unter den Befragten schlechter ist als in der Gesamtbevölkerung.

Bei der Radionutzung zeigen sich die erwartbaren Unterschiede nach Sinnesbeeinträchtigung: mehr Sehbeeinträchtigte und weniger Hörbeeinträchtigte hören regelmäßig Radio. Aber immerhin 80 Prozent der schwerhörigen Befragten gehören zu den Radionutzer*innen. Auch hier kann die Tonqualität nach Aussagen der Expert*innen zu einem Problem werden, etwa wenn Nachrichten und Verkehrshinweise mit einem Musikbett unterlegt werden.

Die Tageszeitung lesen überdurchschnittliche viele Menschen mit Hörbeeinträchtigungen, aber weniger Befragte mit Sehbeeinträchtigungen und mit Lernschwierigkeiten. Nur jeder fünfte Befragte mit Lernschwierigkeiten liest regelmäßig Zeitung, betrachtet man nur diejenigen, die in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe leben, so sinkt der Anteil sogar auf 14 Prozent. 39 Prozent der blinden und 54 Prozent der sehbeeinträchtigten Befragten gehören zu den regelmäßigen Zeitungsleser*innen. Expert*innen gaben als Grund für die geringe Leser*innenquote die fehlende Barrierefreiheit an. E-Paper-Ausgaben im Internet sind nur äußerst selten für Screenreader zugänglich.

Andere Länder sind weiter als Deutschland

Die Studie zeigt Handlungsbedarf in Sachen Barrierefreiheit für alle einbezogenen Medien, allen voran das Fernsehen. Die barrierefreien Sendungen gehören ins lineare Fernsehen und in Mediatheken. Fassungen mit Gebärdensprache nur im Internet anzubieten, wie das derzeit bei öffentlich-rechtlichen Sendern Praxis ist, reicht nicht aus. Besonderen Nachholbedarf in Barrierefreiheit haben die privaten Sender. Hier ist auch die Politik gefragt, über Anreizsysteme und/oder Verpflichtungen lenkend einzugreifen.

Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen kritisierte in seinen Bemerkungen zum Staatenbericht über die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskommission, dass es in Deutschland keine bindenden Verpflichtungen zu Barrierefreiheit für Medien gibt. Dass es geht, zeigt das Beispiel Großbritannien, wo alle Rundfunkveranstalter – sei es privat oder öffentlich-rechtlich – festgelegte Quoten erfüllen müssen. Sie werden von der Aufsichtsbehörde Ofcom abhängig vom Zuschaueranteil und Gründungsjahr der Sender festgelegt und kontrolliert. Die Quoten steigen, je länger die Rundfunksender bestehen.

Hintergrund: Das Untersuchungsdesign der Studie

Die Studie bestand aus drei Untersuchungsschritten:

– 16 Expert*innen-Interview mit Expert*innen aus Wissenschaft und Verbänden mit ohne eigener Behinderungserfahrung dienten der Vorbereitung der standardisierten Befragung. Thema waren relevante Teilhabeeinschränkungen in der Mediennutzung für die unterschiedlichen Teilgruppe, Hinweise zur Zusammensetzung der Teilgruppen sowie zum Befragungsinstrument.

– Standardisierte Face.to-Face-Befragung von 610 Menschen mit Beeinträchtigungen durch das Meinungsforschungsinstitut IPSOS. Die Befragung wurde an die Bedarfe der verschiedenen Teilgruppen angepasst. Es gab eine Fassung in Leichter Sprache und Videos in Gebärdensprache. Das Sample setzte sich aus vier Teilgruppen zusammen (Sehbeeinträchtigung (n=154), Hörbeeinträchtigung (n=161), körperlich-motorische Beeinträchtigung (n=148) sowie Lernschwierigkeiten (n=147)). Innerhalb der Teilgruppen gab es wiederum eine Varianz nach Merkmalen, die auf die Mediennutzung Einfluss haben.

– Vier Gruppendiskussionen mit Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen zu Barrieren im Fernsehen sowie der Qualität von barrierefreien Angeboten. Eine Gruppendiskussion mit sehbeeinträchtigten und blinden Personen; eine Gruppendiskussion mit hörbeeinträchtigten Menschen in Lautsprache und mit Schriftdolmetscher*innen sowie eine Gruppendiskussion in Gebärdensprache; eine weitere Gruppendiskussion mit hör- und sehbeeinträchtigten Personen in Lautsprache mit Schriftdolmetscher*innen und Unterstützung durch Taubblindenassistent*innen.

– Der vollständige Bericht kann hier heruntergeladen werden.

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Aufruf: Ihr habt Ideen, wie man die Zugänglichkeit zu digitalen Medien verbessern kann? Zusammen mit Unity Media und dem Impact Hub Berlin haben wir die Digital Imagination Challenge ausgerufen. Bewerbt euch bis zum 26. November mit euer Idee!

Fotonachweise:

Titelbild: Michel Arriens | Gesellschaftsbilder.de
Bilder der Diagramme: Mediennutzungsstudie, TU Dortmund
Letztes Bild: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de