Zunehmend schreiben Menschen mit Down-Syndrom öffentlich über ihr Leben mit Down-Syndrom. Neben Sebastian Urbanski („Am liebsten bin ich Hamlet“) hat nun auch Verena Elisabeth Turin mit „Superheldin 21“ nachgelegt. Ein Kommentar von Anne Leichtfuß.
„Superheldin 21“ hat Verena Elisabeth Turin ihr erstes Buch genannt, das im Rowohlt Verlag erschienen ist. Sie ist 38 Jahre alt und lebt in Südtirol. Sie beschreibt ihr Leben mit Down-Syndrom: „Ich habe das Down-Syndrom. Und ich bin ok damit.“ Das ist der erste Satz ihres Buches. Sie beschreibt, was sie mag: Schmetterlinge, Nutella direkt aus dem Glas und verliebt sein. Und was sie nicht mag: Angestarrt werden, Menschenmassen und Bankgeschäfte.
Selbständigkeit ist Verena Elisabeth Turin wichtig. Sie beschreibt, was sie alles selbständig hinkriegt in ihrem Leben: Schwimmen, den Haushalt und Friseurtermine vereinbaren. Aber sie beschreibt auch die Grenzen. Schwierige Zusammenhänge verstehen zum Beispiel, wegen der schwierigen Sprache der Politiker und Ärzte. Sie findet: „Normal geht mein Leben so voran.“
“Anders und normal”
Zu dieser Normalität gehört eben auch das Down-Syndrom. Die Gelegenheiten, zu denen sich das bemerkbar macht, sind allerdings nicht so häufig. Beim Blick in den Spiegel gefällt Verena Elisabeth Turin, was sie sieht. Sie mag ihre „schlitzartigen Augen“. Sie fühlt sich stark und schreibt: „Ich möchte, dass die Menschen gleich sehen, dass ich das Down-Syndrom habe. Ich will mein Gesicht und meine Augen allen zeigen. Nur wenn Menschen auf der Straße ihr zu lange hinterhergucken, fühlt sich das Down-Syndrom nicht mehr so gut an. Dann fühlt sie sich „ein bisschen anders“.
Verena Elisabeth Turin definiert sich selbst als Frau mit Behinderung. Sie nennt sich „eine Frau mit Lernschwierigkeiten“. Die machen sich etwa bemerkbar, wenn sie an der Supermarktkasse bezahlt. Der Umgang mit Geld und das Rechnen fallen ihr schwer. Aber sie weiß sich zu helfen: Sie bittet die Kassiererin um Unterstützung. Auch das gehört eben zu ihrem Leben, und das ist nun mal „anders und normal“.
„Das Leben in der Schule hat mir sehr gut gefallen“
Mit sechs Jahren wurde Verena Elisabeth Turin eingeschult. Sie ging in dieselbe Grundschule wie alle anderen Kinder am Ort, und zwar „ohne Gewalt und Richter“, wie sie schreibt. Im Unterricht wurde sie von einer „Stützlehrerin“ begleitet. Verena Elisabeth Turin ist gerne in die Schule gegangen. Alle anderen Kinder freuten sich auf die Ferien – sie nicht.
„Es ist schön, so zu sein wie ich“
Verena Elisabeth Turin erzählt in verschiedenen Kapiteln, wie sie lebt: Es geht um Familie, Alltag, den Haushalt, die Heimat und die Liebe. Das alles liest sich, um denselben Begriff zu verwenden wie Verena Elisabeth Turin, sehr normal. Das Leben von Turin unterscheidet sich nur in wenigen Punkten von dem anderer Frauen in ihrem Alter. Ihre Pläne für die Zukunft sind eine Wohngemeinschaft mit einer netten Mitbewohnerin und mehr gemeinsame Zeit mit ihrem Freund, denn der hat „ein wunderschönes Herz“.
Was erfreulich anders ist als in den Texten vieler anderer Autorinnen, die über ihr Leben schreiben: Verena Elisabeth Turin findet sich rundum gut. Sie hadert nicht. Nicht mit dem Down-Syndrom, nicht mit dem Leben als solchem, ihrem Gewicht oder ihren Schwächen. Die kann sie sehr klar benennen, ist aber versöhnt mit ihnen und mit sich. Sie findet sich selbst gut und sagt es auch klar. Ihre Selbstbeschreibung lautet wie folgt: „Es ist schön, so zu sein wie ich“. Sätze wie diesen würde ich gerne öfter lesen!
Kapitel 12: Verstehen
Das Thema Verstehen ist Verena Elisabeth Turin besonders wichtig und vielleicht die wichtigste Motivation für dieses Buch – von ihrem Kindheitstraum Autorin zu sein mal abgesehen. Sie widmet ihm ein eigenes Kapitel und wünscht sich mehr Verstehen und Einfühlungsvermögen in der Welt. Nicht nur für sich selbst und ein Leben als Frau mit Down-Syndrom, sondern auch, um sich in andere Menschen besser hineinversetzen zu können und die Gründe für ihr Handeln besser verstehen zu können.
Wie ist das Buch entstanden?
In einem Nachwort beschreibt Verena Elisabeth Turin, wie ihr Buch entstanden ist. Sie hat es gemeinsam mit einer Co-Autorin geschrieben: Daniela Chmelik aus Hamburg, Schreib-Assistenz des Magazins Ohrenkuss. Auf ihren Impuls hin ist das Buch entstanden. Daniela Chmelik hat ihr Fragen gestellt. Die beiden haben sich getroffen, Verena Elisabeth Turin hat mit der Hand geschrieben, Daniela Chmelik am Computer. Neben dem Schreiben haben sie viel Zeit zusammen verbracht, waren Rodeln und Pizza essen. Schön, dass der Entstehungsprozess des Buches Teil der Geschichte ist und man merkt beim Lesen, dass das Vertrauensverhältnis der beiden ermöglicht hat, dass auch schwierige Themen zur Sprache kamen.
Mehr Vertrauen in die eigene Sprache
Einziger Wermutstropfen für mich: Die Sprache von Verena Elisabeth Turin wurde für das Buch geglättet. Frau Turin ist auch Autorin des Magazins Ohrenkuss, und dort erscheinen ihre Texte so, wie sie sie schreibt: unkorrigiert und mit all ihren grammatikalischen Besonderheiten. Leichter lesbar sind sie bestimmt in der korrigierten Variante. Und jedes Buch, das im Rowohlt Verlag erscheint, wird sorgfältig lektoriert und korrigiert, das ist mir bewusst. Aber dennoch finde ich, dass das Buch damit an Authentizität und Originalität verloren hat. Nur in einzelnen Wortkreationen schimmert sie durch.
Nichts desto trotz freut mich sehr, dass Verena Elisabeth Turin das Buch geschrieben und Rowohlt es herausgegeben hat. Ich habe es gern gelesen und mag das Bild von Verena Elisabeth Turin, das es zeichnet.
Ich wünsche dem Buch viele Leserinnen und Leser und bestimmt trägt es dazu bei, dass Menschen mit Down-Syndrom differenzierter wahrgenommen werden. Denn, um mit den Worten von Verena Elisabeth Turin zu schließen: „Normal ist einfach, wie wir selbst sind. Die Behinderung ist nicht so wichtig. Der Mensch ja.“
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