Behinderung im Kino: Mehr Realität wagen

Eine Frau mit Downsyndrom wird mit der Kamera interviewt.

“Ziemlich beste Freunde”, “Die Entdeckung des Glücks”, “Ein ganzes halbes Jahr” und nun “Wunder”: Kinozuschauer*innen werden mit Filmen, in denen Jemand laut Drehbuch eine Behinderung hat, überschwemmt. Doch es sind nicht behinderte Schauspieler*innen, die die Rollen verkörpern. Judyta Smykowski sprach mit Expert*innen, wie man das Filmgeschäft diverser gestaltet.

“Es gibt keinen Grund, eine Filmfigur, die eine Behinderung hat, nicht von einem behinderten Schauspieler spielen zu lassen”, sagt Wolfgang Janßen von der Initiative Rollenfang.de. Die Organisation bietet Agenturtätigkeiten und Trainings für Schauspieler*innen mit Behinderung. Doch wie Menschen mit Behinderung auch in der Gesellschaft noch zu wenig sichtbar sind, sind sie es auch in Filmen. Es mangelt am Austausch zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen, zwischen Regisseuren, Producern und Drehbuchautorinnen und Schauspieler*innen mit Behinderung. Janßen von Rollenfang geht sogar einen Schritt weiter und wünscht sich, dass eine Rolle, die im Drehbuch keine Behinderung hat, einfach mal mit einem behinderten Menschen besetzt wird, ohne dass die Behinderung ein Thema im Film ist.

Die Suche nach authentischen Protagonist*innen

Ein Junge mit auffälligen Veränderungen im Gesicht geht durch den Flur seiner Schule.

Im neuesten Kinofilm “Wunder” geht es um den Jungen Auggie, der mit auffälligen Merkmalen im Gesicht geboren wurde. Er wurde bisher zu Hause unterrichtet, muss aber nun in eine weitergehende Schule. Er hat Angst, von Klassenkamerad*innen gehänselt zu werden. Laut “The Atlantic” waren die Produzent*innen bemüht, ein betroffenes Kind für die Rolle zu casten. Doch in der Romanvorlage ist nicht ausreichend geklärt, wie gravierend die Entstellungen beim Jungen Auggie sind. Zunächst wurde ein betroffener Junge ausgewählt, doch nach anstrengenden Drehtagen konnte er kaum noch sprechen. Dies führte dazu, dass die Produzent*innen auf einen Jungen ohne Fehlbildungen zurück griffen und ihm diese auf das Gesicht schminkten. Betroffene Menschen kritisieren, dass der so geschaffene Auggie viel zu unberührt von der Krankheit ist, und hätten sich gewünscht, dass das Produktionsteam nicht so schnell aufgegeben hätte, einen weiteren betroffenen Jungen zu suchen.

Genau andersherum war es bei der Netflix- Erfolgsserie “Stranger Things”, in der es um eine Jungs-Clique geht, die paranormale Erlebnisse hat. Schauspieler Gaten Matarazzo hat Kleidokraniale Dysplasie. >Er wurde für die Rolle des Dustin ausgewählt. Die Behinderung wurde nachträglich ins Script hineingeschrieben. Der 15-jährige spricht nun auch in den Medien über seine Behinderung und wie er anderen jungen Leuten, die betroffen sind, Mut machen möchte.

Grenzen einer Rolle, Grenzen einer Ausbildung

Doch es gäbe auch Grenzen, gibt Wolfgang Janßen zu. Samuel Koch könne keinen Chirurgen spielen, weil er dafür zu eingeschränkt in seiner Bewegungsfähigkeit sei. In seinem neuen Film “Draußen in meinem Kopf” wird Koch dann nur als Mann vorgestellt, der an “Muskeldystrophie leidet”. Ohne Job, ohne andere Interessen. Eine ziemlich flach angelegte Figur. Iris Westermann promoviert an der Universität Hamburg im Fachbereich Medien- und Kommunikationswissenschaft zur Darstellung behinderter Menschen in Spielfilmen. Sie meint: “Bei ‘Ziemlich beste Freunde’ hätte vielleicht gar kein betroffener Mensch die Rolle spielen können, die Drehtage könnten für einen Menschen mit einem hohen Querschnitt viel zu anstrengend sein.” Es fehle an einer guten Ausbildung für behinderte Schauspieler und daher auch der Nachwuchs mit Behinderungen aller Art. Wolfgang Janßen sagt, er wisse von keinem anderen Schauspieler mit Behinderung, der es seit Samuel Koch auf eine Regel-Schauspielakademie geschafft hätte. Auch das ist ein riesiges Problem: die Ausbildung zum Schauspieler oder zur Schauspielerin ist hierzulande viel zu oft weder barrierefrei noch inklusiv.

Botschaft eines Films

Eine Gruppe an Menschen steht festlich gekleidet vor einer Werbewand

Die Aufgabe, die behinderte Menschen scheinbar immer noch in der Gesellschaft haben, sich zu öffnen, den nicht behinderten Menschen ihr Leben und ihren Alltag zu zeigen, um Berührungsängste abzubauen, ist auch im Jahr 2018 noch gegeben. In Amerika sieht man das ähnlich.

Doch muss ein Film “pädagogisch wertvoll” sein? Muss er die Aufgabe erfüllen, Berührungsängste abzubauen? Westermann dazu: “Ein Film sollte nicht belehrend daher kommen. Aber der Zuschauer nimmt aus jedem guten Film unterschwellig etwas für sich mit.” So ergibt sich die Möglichkeit für ein nichtbehindertes Publikum, einen Einblick in das Leben von behinderten Menschen zu bekommen.

Der Film “Wo ist Fred?” aus dem Jahr 2006 war laut Westermann in dieser Hinsicht ein Reinfall. Der Protagonist, gespielt von Til Schweiger, habe keine mehrdimensionale Persönlichkeit, es gehe nur um die Behinderung und diese lächerlich zu machen . Da die Behinderung ausschließlich als komödiantisches Mittel verwendet wird, ist die Gefahr groß, dass bei Zuschauer*innen nur hängen bleibt: Behinderte Menschen bekommen alles, was Nichtbehinderte nicht so leicht bekommen (den heiß begehrten Ball für den Sohn seiner Freundin) und können aber selbst nichts leisten. Bei dem Film “Be My Baby” mit der Schauspielerin Carina Kühne hat man es wiederum geschafft: Carina Kühne spielt eine vielschichtige Frau mit Down-Syndrom. Konkret kämpft eine werdende Mutter darum, ihr Kind zu behalten.

Um die Sichtbarkeit von behinderten Schauspieler*innen zu erhöhen, könne man laut Wolfgang Janßen einfach damit anfangen, die Gärtnerin, den Verkäufer oder andere Nebenrollen mit behinderten Schauspieler*innen zu besetzen. Damit würde man die Vielfalt der Gesellschaft zeigen, ohne gleich einen Lernfaktor erzielen zu wollen. Seine Initiative begleitet auf Wunsch die Akteur*innen ans Set, um sie zu ermutigen, sie zu motivieren oder Assistenz zu leisten.

Neuerdings gibt es in Deutschland Initiativen, die das Filmgeschäft diverser machen wollen, “Pro Quote Film” ist eine davon. Dabei geht es aber nicht etwa um Minderheiten wie Menschen mit Migrationsgeschichte oder mit Behinderung, sondern um Frauen. Auf schriftliche Nachfrage von Leidmedien.de beim Bundesverband Schauspiel, ob man in die Diversitätskampagne auch behinderte Menschen aufnehmen wolle, gab es keine Antwort.

Die Diskussion muss auf zwei Ebenen weitergeführt werden. Zunächst die Story und den Cast betreffend: Sind Menschen mit verschiedenen Merkmalen im Drehbuch und am Set vorhanden? Und auf der anderen Seite: Welche Rolle spielen ihre Merkmale im Film?

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