Wie eine Gesellschaft ihre Mitglieder benennt, sagt viel über deren Akzeptanz aus. Für die Formulierung „Menschen mit Behinderung“ war es in Deutschland ein langer Weg, der mit der diskriminierenden Bezeichnung „Krüppel“ begann.
Vom „Krüppel“ zum „Kriegsbeschädigten“
Zunächst war es im 19. Jahrhundert ein strategisches Mittel, den Begriff „Krüppel“ für Menschen mit einer körperlichen Behinderung zu verwenden. In evangelischen Einrichtungen, sogenannten „Krüppelanstalten“, wollte man so Spenden eintreiben: Der Begriff „Krüppel“ sollte Mitleid für „das Elend” erregen. Es gab jedoch schon früh Kontexte, in denen der Begriff „Krüppel“ nicht gerne verwendet wurde. Im 20. Jahrhundert bezeichnete man im Krieg verwundete Soldaten als „Kriegsbeschädigte“, um eine höhere gesellschaftliche Anerkennung für ihren Einsatz auszudrücken.
Wertvolle Arbeitskraft versus Versuchsobjekt
Im Nationalsozialismus wurden „körperlich behinderte Volksgenossen“ als brauchbare Arbeitskräfte in das deutsche Wirtschaftsprogramm eingegliedert. Menschen mit einer chronisch psychischen Krankheit oder einer „geistigen Behinderung” hingegen wurden häufig als „nicht lebenswert“ betrachtet und im Zuge der „Euthanasie“ umgebracht. Zu der Zeit trat der Begriff „geistig Behinderter“ im Reichsschulpflichtgesetz (1939) zum ersten Mal auf – eine Aufwertung des „Schwachsinnigen“ des 19. Jahrhunderts. „Behinderter“ war nach 1945 die allgemeine Bezeichnung in der Amts- und Gesetzessprache.
Die „Krüppelbewegung“
Durch die „Behinderten-Bewegung“ kam es in den 70er/80er-Jahren zu einer provokanten Umdeutung des Begriffs „Krüppel“: Mitglieder der „Krüppelbewegung“ eigneten sich das Wort „Krüppel“ selbst an, um gegen Mitleid und übertriebene Fürsorge zu protestieren und für die Gleichberechtigung behinderter Menschen einzutreten.
Der Mensch „mit Behinderung“ oder „mit Lernschwierigkeiten“
Heute werden Menschen mit Behinderungen zunehmend differenzierter und wertfreier bezeichnet. Aus „Behinderten“ werden „Menschen mit Behinderungen“, aus „geistig Behinderten“ zunehmend „Menschen mit Lernschwierigkeiten“. Doch nach Ansicht des Historikers Hans-Walter Schmuhl, der sich mit dem Bedeutungswandel des Begriffs „Behinderung“ befasst hat, handelt es sich immer noch um eine „Defizitorientierung“: Mit diesen Ausdrücken werde den Menschen eine eingeschränkte Lebensweise attestiert. Zwar werde auch der Begriff „Inklusion“ zunehmend in Wissenschaft und Medien verwendet, aber im allgemeinen Sprachgebrauch sei er noch nicht angekommen. (Anmerkung d. Redaktion 2017: Inklusion ist ein viel verwendeter Begriff, allerdings wird er manchmal noch durch “Integration” ersetzt.).
„Leidmedien.de” fällt auf, dass in den Medien der Einfachheit oder Abwandlung halber oft noch der Begriff „Behinderte/r“ verwendet wird. Dieser neutral erscheinende Begriff wirkt jedoch häufig so, dass die Beschriebenen auf ihre Behinderung reduziert werden, statt dass sie als Menschen mit anderen Lebensbedingungen dargestellt werden.
Dieser Text basiert auf „Von Krüppeln und Viersinnigen“, einem Interview von Anina Valle Thiele mit dem Historiker Hans-Walter Schmuhl über den Wandel der Bezeichnungen von Menschen mit Behinderungen. Erschienen in „MENSCHEN.das magazin“, Ausgabe 3/2012.