„Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ ist ein Kinofilm, dem die Presse unterstellt, er breche Tabus. Allen voran das Tabu, dass Menschen mit Behinderung Sex haben und dass sie sich sogar fortpflanzen. Judyta Smykowski über den neuen Film mit Lars Eidinger und Victoria Schulz und der Frage nach dem wirklichen Skandal.
“Sag mir einen Moment in dem du das alles nicht bereut hast”, fragt Kristin ihren Ehemann Felix, und meint damit ihre Tochter, die mit kognitiven Beeinträchtigungen auf die Welt gekommen ist. Gespielt wird die 18- jährige, behinderte Tochter Dora von der nicht behinderten Schauspielerin Victoria Schulz. Allmählich entdeckt Dora ihre eigene Sexualität – doch das will ihre Mutter erst einmal nicht wahrhaben. Dora lernt Peter (Lars Eidinger) kennen. Es werden Blicke getauscht und es kommt zum Geschlechtsverkehr, bei dem Peter ziemlich ruppig wird. Wird Dora vergewaltigt? Sie will den Sex eindeutig auch, allerdings kann man nicht sagen, dass sie ihn genießt.
“Sie ist geistig behindert und will Sex”
An dieser Szene scheiden sich die Meinungen in den Rezensionen. Im Artikel von ZEIT ONLINE heißt es klar: Vergewaltigung, SPON macht ein Fragezeichen hinter die Beschreibung der Szene. Oliver Kaever von Zeit Online öffnet seine Rezension mit den Worten: „Dora ist geistig behindert und will Sex.“ Daraufhin folgt die Frage: “Darf sie das?” Und die Antwort: “Offiziell schon”. Daraufhin ein Absatz über die sogenannte Duisburger Erklärung, in der „Behinderte schon 1994 ihre Ziele und Wünsche an die Gesellschaft formuliert“ haben. Es ist sehr befremdlich, dass eine Filmrezension mit solchen Fragen beginnt und sich über Menschen mit Behinderung auf eine Weise erhoben wird, als wären sie Subjekte, die für ihr Tun eine Legitimation bräuchten.
Für Doras Eltern ist es eine Vergewaltigung. Sie bringen ihre Tochter zur Polizei, zum Arzt und zur Sexualtherapie. Und sie schenken der gesetzlich mündigen Tochter eine Armbanduhr mit GPS-Funktion. Auf diese Weise erfahren sie, dass sich Dora öfter mit Peter trifft. Als sie schwanger wird, ist es für die Mutter eine Katastrophe. Natürlich, weil die Pflege des Enkelkinds irgendwie auf sie zurück fallen würde. Aber hauptsächlich deshalb, weil Kristin auch gerne noch einmal schwanger wäre, um ein Kind ohne die sogenannte “geistige Behinderung” zu bekommen.
„Wir möchten das Kind abtreiben“
Hier entfaltet sich das Drama des Films der Schweizer Regisseurin Stina Werenfels. Die Story beruht auf dem Theaterstück von Lukas Bärfuss “Die sexuellen Neurosen unserer Eltern”. Der Film ist kein Film über das geistig behinderte Mädchen in der Opferrolle, im Gegenteil, erfrischend positiv wird die Entdeckung der Sexualität bebildert. Es ist auch ein Film über eine krampfhaft fürsorgliche, eifersüchtige und unsichere Mutterfigur, die mit der Entwicklung der Tochter zu kämpfen hat und gleichzeitig mit sich und ihrer Familienplanung nicht zurecht kommt. Auch ihr Mann Felix bemerkt dies und ist von der Eifersucht auf die Tochter, als diese schwanger wird, angewidert. Doch der Vater fasst sich ein Herz und versucht seine Tochter zu unterstützen.
Die Mutterrolle meistert Kristin mal gut, mal schlecht. Emotional wird Doras sexuelle Entwicklung von Kristin nicht unterstützt oder begleitet, im Gegenteil. Doch Kristin nimmt alle Ärztetermine mit ihrer Tochter wahr – aus eigenem Interesse. Beim Frauenarzt sagt Kristin „Wir möchten das Kind abtreiben“ und bevormundet die Tochter auf diese Weise, die Ärztin lässt sich darauf allerdings nicht ein. Aber auch Dora ist der Situation auf ihre Weise nicht gewachsen. Bei der zweiten Schwangerschaft sagt Dora Dinge wie „Hoffentlich wird es [das Kind] kein Mongo“ und „es soll blaue Augen haben“, als könnte man sich die Bestandteile des Körpers nach Lust und Laune zusammen bauen.
Auf der Suche nach neuen Tabus
Beim Kultursender 3sat heißt es: „Die junge Victoria Schulz gestaltet ihre Figur, diese liebenswerte, anstrengende Dora, die vor Glück manchmal außer Rand und Band gerät, unglaublich intensiv, natürlich und authentisch, ganz ohne Spasti-Klischees und ohne dabei beim Zuschauer einen Behinderten-Mitleidbonus herauszukitzeln.“ Warum kommt der Autor überhaupt auf die Idee, dass es im Film um den Behinderten-Mitleidsbonus gehen könnte? Wahrscheinlich eine logische Verknüpfung, da es bei Themen, die Menschen mit Behinderung betreffen, oft um Mitleid geht.
Das Filmmagazin Artechock lässt in seiner Rezension anklingen, dass der Film das Zeug zum Skandal habe, da er „in unseren kulturellen Tabus rührt“. Doch was an diesem Film ist eigentlich ein Skandal und was ein Tabu? Dass eine Frau mit kognitiven Beeinträchtigungen Geschlechtsverkehr hat? Dass ein nicht behinderter Mann sie für seine Befriedigung ausnutzt, letztendlich aber doch etwas zwischen Sympathie und Empathie für sie empfindet? Oder ist der Skandal nicht eher der, dass da eine neurotische Mutter ihr Kind an der Entwicklung behindert und auch noch eifersüchtig auf die Schwangerschaft ihrer Tochter ist?
„Dora oder die sexuellen Neurosen unser Eltern“ schmeißt alle Konventionen durcheinander und rüttelt den Zuschauer auf. Er veranschaulicht sexuelle Selbstbestimmung mit allen ihren Konsequenzen. Die Skepsis und Zurückhaltung in den medialen Rezensionen zeigen, dass es noch viel mehr solcher Filme braucht, bis der Thematik keine Spuren von Tabu mehr anhaften.
3 Antworten
ich würde die Szene au der Toiltte durchaus als Sexualisierte Gewalt seinerseits werten denn sie will ihm keinen Blasen ist mein Eindruck
Lese den Artikel erst heute und frage mich: was sind bitteschön „Spasti-Klischees“???