Menschen mit Lernschwierigkeiten als Störfaktor – Rezension zum Film „Simpel“

Barnabas und Ben liegen auf dem Boden. Barnabas lehnt sich an seinen Bruder an.

Der neue Kinofilm „Simpel“ basiert auf dem gleichnamigen französischen Jugendroman von Marie-Aude Murail. Die erzählte Geschichte über zwei Brüder und Menschen mit Lernschwierigkeiten variiert stark vom Buch und vermittele viele Klischees, meint Andrea Schöne.

Der Roman „Simpel“ wurde 2008 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Mich interessierte wie die Geschichte zweier Brüder im Film umgesetzt wird. In meiner Heimatstadt Ingolstadt kam der Film nur zwei Wochen in den Kinos, meist nie zur Prime Time abends, wenn mehr Menschen Kinofilme anschauen. Danach verschwand der Film ganz von der Leinwand. Das ist sehr schade. Filme können die erste Möglichkeit sein, sich über Menschen mit Behinderung und ihr Leben überhaupt Gedanken zu machen.

Verschiedene Geschichten in Buch und Film

Aus der französischen Großstadt Paris und über das Leben in einer Studierenden-WG im Buch wird die Handlung im Film ins Watt der Nordsee verlegt und geht dann in einem Roadmovie nach Hamburg. Im Mittelpunkt steht die tiefe Verbundenheit der Brüder Ben und Barnabas. Im Roman heißen die Brüder Colbert und Barnabè. Beide Geschichten stellen die Frage wie die Gesellschaft mit Menschen mit Lernschwierigkeiten umgehen sollte und wie deren freie Bestimmung auch über die Wohnform gewahrt werden kann.

Im Film leben die Brüder Ben (gespielt von Frederick Lau) und Barnabas (David Kross) bei ihrer todkranken Mutter am Watt in Norddeutschland. Ben kümmert sich um den Haushalt und seinen Bruder Barnabas, genannt „Simpel“. Barnabas hat Lernschwierigkeiten und sein Stofftier „Monsieur Hasehase“ ist sein stetiger Begleiter. Nach dem Tod der Mutter schwört Ben auf seinen Bruder aufzupassen, sein Vater will Barnabas ins Heim geben. Als die Polizei und der Heimleiter Barnabas abholen wollen, stiehlt Ben den Polizeitransporter und haut mit seinem Bruder ab. Ihr Weg führt sie mit den Sanitäter*innen Aria und Enzo nach Hamburg. Ben will dort seinen Vater treffen, der die Familie vor einigen Jahren verlassen hatte und ihn überzeugen ihm die Betreuung seines Bruders zu übertragen.

Barnabas ist eine Last

Im Film wird Barnabas als Störfaktor für das Leben seines Bruders Ben inszeniert. Ben kann sich nicht um sich selbst kümmern, weil er ständig mit anderen beschäftigt ist: seinem Bruder, seiner kranken Mutter und dem Haushalt. Der Vater versucht auf Ben einzureden, dass vor allem Barnabas sein Leben zerstört. Im Film wird angedeutet, dass er Barnabas wegen seiner Behinderung komplett ablehne und deswegen auch die Familie verlassen habe.

Ben ist überfordert, stiehlt für beide Lebensmittel, die Polizei sucht ihn wegen Körperverletzung während des Diebstahls des Polizeitransporters. Unterschwellig vermittelt der Film, dass Bens Bruder mit Lernschwierigkeiten ihm tatsächlich seine Zukunft verbaut, indem Ben sich immer mehr strafbar macht. Als Ben ein Gespräch mit seinem Vater führt, lässt er Barnabas alleine in der Wohnung der Sanitäterin Aria, mit der sie sich während der Flucht angefreundet haben, ohne ihr Wissen zurück. Bei einem Kochversuch fackelt Barnabas fast die ganze Küche ab. So wird Bens Überforderung noch deutlicher, er zieht auch neue Freunde mit rein. Die Situation eskaliert immer mehr, bis Ben seinem Bruder selbst vorwirft immer zu stören.

Letztendlich kommt Barnabas doch in ein Heim und findet dort auch eine Freundin, ein Mädchen mit Down-Syndrom namens Sarah, die er vorher auf einem Spielplatz mit Aria zufällig kennengelernt hat. Der Film bestätigt hier vor allem Klischees; Menschen mit Lernschwierigkeiten leben besser in einem Heim und finden dort zum ersten Mal Freund*innen. Die Verhaftung von Ben bestätigt auch das Klischee, dass Barnabas das Leben seines Bruders tatsächlich verbaut hat.

Positivere Sicht im Buch

Im Buch ist die Sicht auf Menschen mit Lernschwierigkeiten auffällig positiver. Die beiden Brüder ziehen in eine Pariser Studierenden-WG ein, die zunächst wegen Barnabés Behinderung skeptisch ist. Doch nach und nach legen die meisten Mitbewohner*innen ihre Berührungsängste ab. Barnabé regt die Studierenden auch immer wieder mit seinen sehr ehrlichen Bemerkungen zum Nachdenken an. So hört ein Mitbewohner beispielsweise deshalb mit dem Rauchen auf und verkuppelt zwei Mitbewohner*innen miteinander. Die Geschichte wird mit viel Humor erzählt.

Barnabés Bruder Colbert hat neben der Betreuung seines Bruders auch ein eigenes Leben. Den Lebensunterhalt beider finanziert er durch das Erbe der verstorbenen Mutter. Er besucht in Paris ein Elitegymnasium und will sich danach für die Aufnahmeprüfung an einer Pariser Eliteuniversität vorbereiten. Im Gymnasium lernt er ein Mädchen kennen und verliebt sich.

Stereotype und Schimpfwörter über behinderte Menschen

Schon der Titel des Buches und Films „Simpel“ ist klischeehaft. Das Wort ‚simpel‘ hat eine abwertende Bedeutung und weist vor allem auf die Defizite des Bruders mit Lernschwierigkeiten hin. Barnabas ist 22 Jahre alt und auf dem geistigen Stand eines Dreijährigen. Oftmals wird er wie ein „großes Kind“ behandelt, das man nicht ernst nehmen kann. Auch wenn er dem Gespräch folgen kann und ganz klar seine Meinung äußert. Aria geht mit Barnabas im Film auf einen Spielplatz, was noch einmal klischeehaft verdeutlicht, wie Menschen mit Lernschwierigkeiten als „große Kinder“ gesehen werden. Sich selbst bezeichnet Barnabé als „Idiot“ und wird so auch zum Teil von den WG-Mitbewohner*innen bezeichnet, ohne die Abwertung jemals zu thematisieren.

Im Film treffen Ben und Barnabas auf einen LKW-Fahrer, der selbst einen Sohn mit Lernschwierigkeiten hat. Er beschreibt wie fröhlich sein Sohn ist und dass er wisse, was wichtig im Leben ist. Menschen mit Lernschwierigkeiten wird damit klischeehaft zugeschrieben immer nur fröhlich zu sein. Dabei wird vergessen, dass auch Menschen mit Lernschwierigkeiten Sorgen haben können bis zur Depression.

Die Sprache des Films kommt leider auch nicht ohne das Schimpfwort „Spasti“ bei der ersten Begegnung von Aria und Barnabas aus. Später entschuldigt sie sich dafür bei seinem Bruder. Dennoch wäre das Schimpfwort nicht nötig gewesen, um Arias Berührungsängste und Vorurteile gegenüber Barnabas realistisch darzustellen.

Kein Schauspieler mit Behinderung

Barnabas wird von David Kross dargestellt, einem Schauspieler ohne Behinderung. Die Ursache für Barnabas Lernschwierigkeiten werden im Buch und Film ausführlich thematisiert. In einem Interview erzählte Kross der Morgenpost, dass er für die Rolle mit Psychologen gesprochen hat und viel Zeit in Behindertenwohnstätten verbracht hat, um das Verhalten von Menschen mit Lernschwierigkeiten zu studieren. In keinem Interview wurde die Frage gestellt, warum der Regisseur Markus Goller keinen Schauspieler mit Lernschwierigkeiten für die Rolle des Barnabas engagiert hat.

Die Darstellung von Barnabas erscheint mir durch die hektischen Fingerbewegungen und den schiefen Gang als übertrieben. Im Interview mit dem NDR beschrieb Kross die Behinderung von Barnabas als eine „Mischung aus Intelligenzminderung und einer bestimmten Form von Autismus“. Das kann Klischees über Autist*innen wieder hervorrufen.

Pressestimmen

Das Medien-Echo auf den Film war enorm. Während Ben mit seinem Vater auf der Geburtstagsfeier seiner neuen Frau spricht, betritt Barnabas das Haus. Daraufhin reagiert der Vater auf seinen behinderten Sohn Barnabas sehr aggressiv. Er wirft ihn vor allen Geburtstagsgästen zu Boden und schlägt ihn auch. Der WELT war die Aggressivität nicht drastisch genug. Für n-tv braucht die herzzerreißende Tragikomödie unbedingt eine Fortsetzung. Im Interview mit der BILD will David Kross Menschen mit Lernschwierigkeiten ohne Mitleid begegnen, diskriminiert aber positiv, indem er meint: „Ich wollte nicht mit Mitleid auf diese Leute schauen, sondern ich wollte ihnen ganz normal begegnen. Das bringt ihnen viel mehr als nur reines Mitleid. Sie geben einem dann auch unheimlich viel. Auch meine Figur Simpel teilt andere Figuren nicht in Kategorien ein, wie das heute nach dem Leistungsprinzip so üblich ist. Er schaut jeden Menschen mit offenen Augen an und hat viel Liebe zu verschenken.“ Im NDR werden Menschen mit Lernschwierigkeiten von David Kross als „nicht normal“ definiert.

Fazit

Der Regisseur Markus Goller spricht im Interview mit Filmreporter.de über die Abschottung von Menschen, die anders sind und ausgeschlossen werden. Es wäre schön gewesen, wenn er dies auch im Film thematisiert hätte. Es ist nichts Neues, dass es gegen Menschen mit Lernschwierigkeiten viele Vorurteile gibt.

Für mich zeigt der Film verschiedene gesellschaftliche Haltungen gegenüber Menschen mit Lernschwierigkeiten – aber vor allem die negativen. Der Vater der Brüder lehnt seinen Sohn mit Behinderung vehement ab, am Ende gipfelt es regelrecht in Aggression. Seinem Sohn Ben verweigert er jede Hilfe, um Barnabas nicht ins Heim geben zu müssen. Die Sanitäterin Aria weist Ben ebenfalls auf die guten Fördermöglichkeiten im Heim hin, als sie zufällig eine Gruppe von Menschen mit Lernschwierigkeiten aus einem Heim trifft. Positiv ist jedoch, dass Aria ihre Berührungsängste zu Barnabas im Laufe des Films abbaut. Während sie ihn zu Beginn des Films nicht ernst nimmt und ihn nicht persönlich anspricht.

Ich hätte mir für die Zuschauer*innen noch mehr Anregungen gewünscht, wie man respektvoll mit Menschen mit Lernschwierigkeiten umgeht und seine Berührungsängste abbaut. Es ist an der Zeit an Filmen zu arbeiten, die uns zeigen wie Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam zusammenleben können. Der Eigenblick von Menschen mit Lernschwierigkeiten bleibt bei „Simpel“ wieder vorborgen.

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