Auf der Berlinale laufen Hunderte Filme, aber nur drei mit Audiodeskription. Wie das Kino doch noch zum Erlebnis für sehbeeinträchtigte und blinde Menschen wird, hat Philip Kretschmer getestet: Zusammen mit Nutzerin Gabriele Bender war er mit der App „Greta“ im Kino.
Als der Saal im Bundesplatz Kino dunkel wird und auf der Leinwand der Hinweis erscheint, dass der Mitschnitt des Films nicht erlaubt ist, holt Gabriele Bender ihr Smartphone aus der Tasche. Sie startet eine App und steckt sich ihre Kopfhörer in die Ohren. Gabriele Bender ist blind und ein Film-Fan. Die offene und freundliche Frau trifft sich gerne mit Freunden und macht auch sonst alles was ihr Spaß macht – zum Beispiel ins Kino gehen. Bei der heutigen Vorstellung von „Die Sprache des Herzens“ testet sie zum ersten Mal „Greta & Starks“ – diese beiden Apps erleichtern Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen einen barrierefreien Zugang zu Kinovorstellungen. Und das immer und überall, nicht nur in Sondervorstellungen. Mehr als zehntausend Menschen nutzen die Apps bereits. “Starks” ist dabei die App für gehörlose Menschen, die sich spezielle Untertitel auf ihrem Smartphone anzeigen lassen können.
Lauschen statt flüstern – wenn Greta erzählt
Gabriele Bender aber ist heute mit „Greta“ im Kino, der App für blinde und sehbeeinträchtigte Menschen. Über die App hat sie Zugang zu den Audiodeskriptionen der Filme, die sie gerne sehen möchte. Audiodeskriptionen sind ein für Menschen mit Sehbeeinträchtigung entwickeltes Erzählformat, in dem während der Dialogpausen des Films detailliert beschrieben wird, was gerade auf der Leinwand zu sehen ist. Gabriele Bender will darauf nicht mehr verzichten: „Mittlerweile gehe ich nur noch in Filme mit Audiodeskriptionen. Früher habe ich das auch mal anders probiert, aber es ist einfach für alle Beteiligten kein schöner Zustand. Weil derjenige der neben einem sitzt möchte natürlich auch, dass man vom Film was hat, also gibt es immer leises Flüstern und das findet natürlich der Nebenmann nicht schön.“ Bei Audiodeskriptionen braucht ihr niemand den Film zu erklären, man nennt diese Versionen deshalb auch Hörfilme. Wie sich das anhört, zeigt dieser Ausschnitt aus dem Saarbrücker Tatort „Adams Alptraum“:
In der App “Greta” kann Gabriele Bender sich diese Audiodeskriptionen zu aktuellen Kinofilmen ganz einfach zuhause herunterladen, „am besten im WLAN-Bereich, wegen der Datenmenge.“ Im Kino startet sie “Greta”, wählt den Film aus und synchronisiert ihn sobald die Kinovorstellung beginnt. „Das ist recht schwierig, zumal ja auch vor jedem Kinofilm recht viel Werbung ist“, erzählt Bender „aber im Zweifelsfalle fragt man seine Nachbarin, wann der Film beginnt und dann müsste das mit der Synchronisierung ganz gut hinkommen.“ “Greta” erkennt über das Mikrofon im Telefon, an welcher Stelle des Films man sich gerade befindet, und startet die Audiodeskription an diesem Punkt. Das ist gerade bei eher stillen Filmen manchmal nicht so einfach, aber im Notfall muss man einfach ein weiteres Mal synchronisieren.
Zugang zu Kinofilmen mit Audiodeskription weiter schwierig
Audiodeskriptionen gibt es in Deutschland schon seit über 20 Jahren. Nur der Zugang zu ihnen war immer schwierig: Einige Kinos und Festivals bieten Sondervorstellungen an, in denen statt des normalen Tons eine Version mit Audiodeskription gezeigt wird, aber ihre Zahl ist sehr begrenzt. So laufen auf der diesjährigen Berlinale 441 Filme in fast 1000 Vorführungen, davon jedoch nur drei mit Audiodeskription. Und auch im normalen Kinobetrieb sind diese Sondervorstellungen rar gesät und liegen oft zu ungünstigen Zeiten. Dabei gibt es zu allen geförderten Filmen, die in Deutschland in die Kinos kommen, bereits eine Audiodeskription. Auch bei großen Hollywoodproduktionen ist eine Hörfilmfassung oft selbstverständlich. Das Team von “Greta & Starks” hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese bereits vorhandenen Hilfen auch zugänglich zu machen. So können sehbeeinträchtigte Zuschauern “Greta” in jedem Kino in Deutschland nutzen und für jeden Film, dessen Audiodeskription in die App gestellt wurde. Das sind mittlerweile schon über 30 große Filmproduktionen, gut zehn davon laufen gerade im Kino. Für diese Auswahl ist Gabriele Bender schon dankbar: „Aber natürlich fände ich es noch besser, wenn noch mehr Filme hinzukommen würden, keine Frage.“
Selbstverständlich gibt es auch andere Verbreitungswege für Hörfilme. So gibt es Modelle, bei denen an der Kinokasse Kopfhörer ausgeliehen werden können. Dabei müssen allerdings die Kinos aufrüsten, wozu bei den sinkenden Zuschauerzahlen nicht alle bereit sind. Das Charmante am Konzept von “Greta & Starks” ist, dass es für alle Beteiligten relativ geringe Hürden aufweist: Die Kinobetreiber müssen keine technische Aufrüstung bezahlen, die Verleiher können die schon vorhandenen Audiodeskriptionen gegen eine Gebühr den Zuschauern zugänglich machen und für diese ist lediglich der Besitz eines Smartphones Voraussetzung: die App und der Zugang zu den Deskriptionen ist kostenlos. Doch hier liegt auch der Haken, denn von den rund 1,4 Millionen Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen in Deutschland besitzen nicht alle ein Smartphone. So schafft die App – die ja der Barrierefreiheit dient – eine weitere Hürde, gerade bei älteren Menschen und solchen, deren Sehfähigkeit erst später im Leben abnimmt.
Bei Sex-Szenen bitte Ruhe
Ein weiterer kritischer Punkt sind die Audiodeskriptionen selbst. Bis jetzt gibt es keine verbindlichen Standards. Art und Qualität der Deskription hängen von den jeweiligen Produktionsfirmen ab. Für Gabriele Bender ist die Aufgabe von Audiodeskriptionen klar: „Sie sollen nur die sehenden Augen ersetzen und sollen den Film auf keinen Fall kaputt machen, weder durch die Lautstärke, noch Musik, noch Stimmung.“ Doch das ist manchmal gar nicht so einfach, zum Beispiel bei Action- oder Sex-Szenen. Dort wirkt die Beschreibung manchmal deplatziert. Doch auch dafür hat Gabriele Bender eine Lösung: „Bei Sex-Szenen hört man ja meistens was da passiert und dann wird auch teilweise bewusst darauf verzichtet, etwas zu beschreiben, weil man es eben auch so mitbekommen kann, damit eben nicht die Stimmung des Films dadurch kaputt gemacht wird.“ Einig ist man sich darin, dass die Beschreibungen möglichst neutral sein sollen. Schließlich soll die Bildbeschreibung dem Nutzer selbst die Möglichkeit geben, das Gezeigte zu interpretieren. Doch allein die Entscheidung, welche Elemente des Bildes als so relevant einzuschätzen sind, dass sie in der kurzen Zeit der Dialogpausen beschrieben werden sollen, ist ja schon eine Interpretation. Dass man mit den Hörfilm-Fassungen ein komplettes Kinoerlebnis haben kann, zeigen die Filmrezensionen einer anderen blinden Kinofreundin, die sie unter dem Namen Blindgängerin auf ihrem Blog veröffentlicht.
„Chance auch mal mit einem Sehenden ins Kino zu gehen“
Zurück ins Bundesplatz-Kino: Der Film ist vorbei und Gabriele Bender ist trotz kleinerer Probleme begeistert: „Es funktioniert fast gut und die paar Pannen am Anfang, dass man nicht mit der Synchronisierung nachkam, das wird sich auch noch ändern.“ Sie will die App auf jeden Fall weiter nutzen und in Zukunft öfter ins Kino gehen: „Das ist auf jeden Fall eine Chance, dass man auch mal mit einem Sehenden ins Kino gehen kann und dann nicht immer sagen muss: ‘Beschreib mir mal den Film leise’ und dann gibt es ein ‘Pssst’ vom Nebenmann, sondern dass man wirklich unabhängig zusammen ein Kinoerlebnis hat und sich hinterher über den Film austauschen kann.“ Greta ist also im besten Falle genau das, was eine gute App ausmacht: Ein kleines Hilfsprogramm, das Kinoabende auch für sehbeeinträchtigte Menschen zum Erlebnis macht.