Serienkritik „Atypical“: Eine realistische Utopie

Ein Schüler ist im Schulgebäude. Rechts und Links Schüler und Spinte. Der Schüler trägt Kopfhörer, Hoodie, Hose und Schuhe.

Netflix stellte mit der Serie “Atypical” eine Coming of Age-Story um einen 18-jährigen Autisten und seinen Alltag online. Was nach einer neuen Initiative zum Abbau von Vorurteilen klingen mag, erfüllt diese leider zu Genüge, meint Marlies Hübner in ihrer Filmkritik.

Sam ist 18 und sucht eine Freundin. Auf dem Weg dahin verliebt er sich unglücklich, hat Liebeskummer, verletzt Menschen, die er eigentlich mag und erleidet sämtliche Schiffbrüche, die Jugendliche in seinem Alter mit der ersten große Liebe erleben. Und das ist bemerkenswert, denn Sam, die Hauptfigur der neuen Serie Atypical, ist Autist. Ein Autist, der in einem Unterhaltungsformat endlich einfach ganz alltägliche zwischenmenschliche Probleme haben darf. Mit der Serie „Atypical“ möchte Netflix den Spagat zwischen Drama und Comedy leisten, mit der Behinderung Autismus im Fokus, die alles andere als einfach darzustellen ist.

Im Mittelpunkt steht einerseits der 18-jährige autistische Sam, der sich eine Freundin wünscht, im Alltag aber mit typisch autistischen Problemen wie Kommunikationsschwierigkeiten und Reizfilterschwäche zu kämpfen hat. Die Serie zeigt andererseits aber auch, wie die Familie und das Umfeld mit Sam umgehen und von ihm beeinflusst werden. Während Sam sich im Laufe der Staffel weiterentwickelt, fällt es der Schwester und den Eltern sehr schwer, sich aus ihren bisherigen Rollen zu lösen. Sie haben eine Art Schonraum für Sam entwickelt, den sie scheinbar selbst nötiger haben als Sam. Sie sehen sich darin als Beschützende des autistischen Jugendlichen, der so viel Schutz gar nicht mehr braucht.

Heftige Kritiken an Atypical

Atypical wurde bereits vor der Veröffentlichung in autistischen Kreisen heftig kritisiert. Der Vorwurf: Wieder mal eine Produktion ohne Autist*innen über Autist*innen. Über die Beteiligung der von Autist*innen weltweit kritisierten Elternorganisation Autism Speaks wird gemutmaßt. (Hintergründe zur Organisation hier). Belege dafür gibt es aber nicht. Die Tatsache, dass Hauptdarsteller Keir Gilchrist nicht im Autismus-Spektrum ist, wurde der Serie zu Recht vorgeworfen. Auch nachdem Netflix die Serie veröffentlicht hatte, riss die Kritik nicht ab. Besonders eine Szene schien vielen Autist*innen sauer aufzustoßen: Sams Schwester Casey gibt ihrem Bruder Dating-Tipps. Dabei empfiehlt sie ihm unter anderem, beim ersten Date nicht zu viel über die eigenen Spezial-Interessen zu reden. Die Empörung darüber, dass einem Autisten gesagt wird, sich zu verstellen, ist groß. Doch ist sie auch gerechtfertigt?

Die Netflix-Serie Atypical ist weder eine Doku, noch eine Science-Fiction-Serie über eine barrierefreie Utopie. Der Anspruch der Serie ist zuallererst Unterhaltung und in zweiter Linie eine Abbildung der Realität. Und Realität für uns Autist*innen bedeutet: Es wird von uns erwartet, in einer nicht-autistischen Welt zurechtzukommen. Nicht anders herum.

Genau diese Realität für Autist*innen zeigt Atypical. Man kann der Figur des autistischen Sams durchaus Überzeichnung vorwerfen, zuweilen ist sie stereotyp. Nie aber ist sie bloß Karikatur. Hinter allem scheint der Mensch Sam durch und das ist mehr, als man von den meisten Autismus-Darstellungen in Film und Fernsehen sagen kann. Sam ist weder ein gefühlskalter Roboter noch ein im Alltagsleben unfähiger Inselbegabter wie Rain Man. Er ist ein autistischer Teenager, der durch sein autistisches Verhalten aneckt. Damit ist er das Gegenteil dessen, was die ABA-Szene verlangt (Anpassung an das Umfeld), sondern ein Autist, der einfach er selbst ist. Es wird deutlich, wie ein Kind mit Behinderung eine Familie fordern kann, sozial isolieren kann, wie es sie an den Rand des Zerbrechens führt und doch wieder zueinander finden lässt – wie im “echten Leben”.

“Keiner ist normal”

Fairerweise muss man sagen, dass die Überzeichnung sich nicht auf die autistische Figur beschränkt. Fast alle Personen in der Serie sind ein Stereotyp: Der überforderte, aber gutherzige Vater, die Helikopter-Mutter, die es versäumt, mit ihrem Sohn mitzuwachsen, der überdrehte beste Freund, der wie eine Kopie der Figuren aus „Männlich, 40, Jungfrau, sucht…“ wirkt. Und letztlich stellt sich ja auch die Frage: Wie will man in dreißigminütigen Folgen eine seelische Behinderung darstellen, die sich für viele Autist*innen vor allem im Innenleben abspielt? Die Figur des Sam ist alles andere als subtil, keine Frage – aber das ist die Serie ohnehin nicht. Ein Autist aus meinem Umfeld, der erst als Erwachsener eine Diagnose erhielt, sagte: “Sam ist so, wie ich als Jugendlicher gewesen wäre, wenn ich nicht gelernt hätte, mich anzupassen und zu verstellen.”

Und ein wenig ist Atypical dann doch Utopie, denn sie zeigt einen Autisten, der ohne Anpassungsdruck leben darf, ohne den Zwang, einen Nichtautisten imitieren und sich anpassen zu müssen. Seine Therapeutin ist nicht dazu da, Sams Autismus zu unterdrücken, sondern steht ihm bei Alltagsfragen als Ansprechpartnerin zur Verfügung. Zu Sams Bedauern aber leider nicht für mehr. Und was den Ratschlag der Schwester angeht, vielleicht nicht gleich beim ersten Date eine Abhandlung über seine Spezialinteressen zu halten: Nun, das ist ein Tipp, den wohl jeder Mensch beim ersten Date erhalten würde, egal, ob Autist oder nicht. Warum sollte da bei Sam eine Ausnahme gemacht werden?

Sam scheint an vielen Stellen wie eine Lupe zu wirken. Durch ihn und seine direkte Art der Kommunikation wirkt das Miteinander der nichtautistischen Figuren so unlogisch, wie es sich für Autist*innen tatsächlich anfühlt. Sei es der Streit der Schwester mit ihrem Freund oder die Affäre der Mutter – nichtautistische Kommunikation mit all ihren Facetten und Zwischentönen provoziert Missverständnisse geradezu und wirkt neben Sam, der ausspricht, was er denkt, unnötig kompliziert.

Konfrontation mit den eigenen Erfahrungen

Als Autistin fällt es mir schwer, bestimmte Szenen zu sehen. Es schmerzt, wenn man mit ansehen muss, wie Sam gemobbt und ausgeschlossen wird. Es schmerzt, wenn er verzweifelt selbststimulierendes Verhalten ausübt, um sich zu beruhigen oder einen Meltdown erleidet. Denn all das ist einem selbst nur allzu bekannt und man fühlt in diesen Augenblicken tiefer mit ihm, als angenehm wäre.

Als Autistin mag ich die Serie dennoch, denn sie wagt mit ihren freundlichen, aber ungeschönten Bildern eine neue Herangehensweise an das Thema Autismus und beweist damit Mut. Doch ich verstehe gleichermaßen die Kritik anderer Autist*innen. Wir werden in unserem Alltagsleben unablässig mit Stereotypen konfrontiert, mit Vorurteilen, Verharmlosungen, Ausgrenzung. Medien haben das immerzu verstärkt und befeuert. Wir fürchten uns vor Falschdarstellungen, da sie sich direkt auf unser Leben auswirken und den Umgang mit uns negativ beeinflussen. Wie oft wurden schon zu Unrecht Autismusdiagnosen angezweifelt, weil man weder ein Savant ist wie Rain Man, noch ein genialer Wissenschaftler wie Sheldon Cooper in „The Big Bang Theorie“.

Doch fiktionale Serien, Filme und Bücher arbeiten mit Stereotypen, anders können sie nicht entstehen. In diesem Fall ist es den Machern von Atypical gelungen, Autismus liebenswert zu transportieren, liebenswert, aber nicht perfekt. Vermutlich war das auch nicht ihr Anspruch. Und am Ende ist Sam ein echter Gewinn für uns Autist*innen, denn jenseits aller stereotypen Symptome, mit denen er ausgestattet wird, zeigt Atypical ihn als das, was wir Autisten sind: Völlig normale Menschen mit völlig normalen Gefühlen und normalen Wünschen und Bedürfnissen.

Pressestimmen

Vor allem in den USA gibt es neben vielen positiven Rezensionen sehr laute Stimmen in der autistischen Community, die einen Boykott der Serie verlangen. In Deutschland meldeten sich in der Presse bislang wie gewohnt nur Nichtautist*innen mit ihren Einschätzungen zu Wort.

In der FAZ benutzt der Autor kritikwürdige Formulierungen, schreibt von “mildem Autismus” und davon, dass der ganzen Serie wohl die Würze fehlt. Er verharmlost Sams Spezialinteresse zu einem “Tick” und nennt eine aufgrund seiner Überempfindlichkeit gegenüber Berührungen impulsive Reaktion einen “Ausraster”. In seinem Text kritisiert er, dass die Serie unbedingt Normalität vermitteln will – etwas, was man eigentlich als ihre Stärke betrachten sollte. Denn Autismus ist eine große Facette der menschlichen Gesellschaft.

In der Zeit “leidet” Sam am Asperger-Syndrom, eine veraltete Kategorisierung, die die Serie selbst nicht benutzt. Die Autorin Lina Muzur sieht bei Sam Inselbegabungen, die weder Teil seiner Figur, noch Teil des autistischen Spektrums sind und nennt seine autistischen Verhaltensweisen abwertend “Marotten”. Sie bezeichnet Autismus als Krankheit und wirft der Serie vor, Stereotypen zu benutzen, etwas, was sie selbst in ihrem Text ohne Unterlass tut.

Der Autor bei Moviepilot gibt in seinem Text zu, zu wenig von Autismus zu verstehen, um weitergehend darüber schreiben zu können – erfrischend zwar, es wirft jedoch trotzdem die Frage auf, warum man stattdessen keine autistischen Autor*innen mit der Rezension beauftragt hat.

Autismus wird medial immer öfter thematisiert. Bei einer Neurodiversität, die 1% der Menschen betrifft, scheint das nur folgerichtig. Die selbstverständliche Darstellung von Autist*innen in Unterhaltungsformaten bedeutet Normalität. Doch bis sie so mühelos gelingt wie bei Nichtautist*innen, wird es noch dauern. Atypical ist ein guter, wenn auch nicht perfekter Anfang.

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3 Antworten

  1. Danke für die Filmkririk und vorallem: die Kritik der Kritiken! die haben mich auch mächtig gestört… ansonsten sehe ich hier genau wie bei degrassi das selbe dilemma: es ist nicht alles eitel sonnenschein es wäre seltsam es so darzustellen aber es schmerzt auch Reproduktionen zu schauen… Gerade desswegen finde ich es so wichtig dem Hauptcharakter dann agency zuzusprechen, genau das fehlt mir aber noch etwas in der serie.

    Die Rolle der Schwester ist echt tragisch… aber die spannenste und rundeste von allen bisher (da heißt nicht das sie immer richtig handlt aber sie hat einen komplexen charakter). Mutter und Vater sind komische abziehbilder aus jeder 90er Jahre serie und desswegen recht öde. und tja die serie ist meisterhaft darin Schwarze und Personen of indin decent als sidekick zu verbraten. Kollege des Vaters? Schwarz, sagt fast nie was. Beste Freundin der Schwester? Schwarz, folgt nur der Gruppendynamik. Bester Freund der Hauptperson? of indian decent und erfüllt jede darstellungsmarotte von indian ppl. Selbst die Interviewnde Prerson an der neuen schule ist Schwarz und darf nur sagen das er a) nur bekannt ist weil er Schwarz ist und B) unsensibel sein.

    Es wäre zu wünschen gewesen, dass mehr Expert*innenwissen in das Charakterdesign eingeflossen wäre… so ist die hauptperson zwar nahbar geworden aber alle anderen wirken pauspaierartig. schade. Und ja: warum warum immer noch method acting statt leuten die ahnung haben von dem was sie spielen…

    Diese Serie zeigt was „Diversity“ ist statt dekonstruktion, kritisches Machtbewusstsein und Multiperspektivität…