Kein Rain Man – Über Autismus berichten

Ein kleines Bild was an der Wand hängt.
Foto: John O'Sullivan / Flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

Als Dustin Hoffman in dem Hollywood-Klassiker “Rain Man” Karten und Streichhölzer in rauschender Geschwindigkeit zählte, wurde für viele Zuschauer ein Bild über Autisten geboren. Der Blogger bestOfCrumbs möchte das Bild vom “Hochbegabten” aber “emotionslosen Menschen” gerade rücken und es lieber um viele Facetten erweitern.

Autismus zu verstehen und darüber zu schreiben und zu berichten ist nicht einfach. Das merke ich selbst, während ich an diesem Text arbeite. „Den“ Autismus oder „das“ Asperger-Syndrom gibt es nicht. Jeder Mensch mit einer solchen Diagnose erlebt seinen Autismus anders, die Symptome und deren Ausprägungen sind verschieden. In der Diagnostik spricht man zwischenzeitlich von der Autismus-Spektrums-Störung, kurz ASS, und dazu gehören der frühkindliche Autismus, der atypische Autismus und das Asperger-Syndrom. Diese Störungen gehören zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. „Hochfunktional“ werden jene Autisten und Autistinnen bezeichnet, die trotz ihres Autismus’ sehr gut im Alltag zurecht kommen. Dazu empfehle ich auch den Artikel “Was Autismus ist und was Autismus nicht ist” von Colin Müller (Autismus Kultur).

Autist, Aspie oder Mensch mit Asperger-Syndrom?

Alle drei Varianten sind korrekt, aber achten Sie darauf, wie sich die porträtierte Person selbst beschreibt. Ich persönlich mag Aspie nicht, das wirkt auf mich verniedlichend und verharmlosend. Andere wiederum finden, dass die Abkürzung gut zu ihnen passt. Ich sage am liebsten: “Ich habe das Asperger-Syndrom.” Niemand ist ein Asperger, außer man heißt so oder man kommt von dort (Asperg, Deutschland). Es gilt auch länderspezifische Unterschiede zu beachten. In der Schweiz ist es verpönt von “Autisten” zu reden, hingegen ist es in Deutschland üblich zu sagen: “Ich bin Autist”, oder “Sie ist eine Asperger-Autistin.” Nie würde ich sagen: “Ich habe eine Autismus-Spektrums-Störung.” Das ist zu holprig, zu kompliziert, zu negativ. Vielleicht setzt sich in Zukunft die Abkürzung ASS durch.

Nicht krank oder behindert, sondern anders

Im unten verlinkten Artikel “Eine Diagnose für fast Normale” (Nr. 8) des Tages-Anzeigers vom 17.02.2012 wird in der Einleitung diese Frage gestellt: “Ist die milde Autismusform nur ein Trend in der Psychiatrie – oder sind die Betroffenen tatsächlich krank?”. Autismus ist keine Krankheit, sondern eine tiefgreifende Entwicklungsstörung. Von daher kann man auch nicht von einer “Heilung” sprechen. Menschen aus dem Autismus-Spektrum haben eine angeborene, veränderte Wahrnehmung und Informationsverarbeitung, die viele von ihnen als Reizüberflutung erleben. Woher das kommt, ist wissenschaftlich noch nicht eindeutig geklärt. Durch die andere Wahrnehmung kommt es für Menschen aus dem autistischen Spektrum immer wieder zu Einschränkungen. Vor allem aber sind nicht alle Personen aus dem autistischen Spektrum zwangsläufig “schwerbehindert”. Es gibt einige, die sich in ihrem Alltag einrichten konnten, arbeiten und selbstständig leben. Daher ist es wichtig, von Einzelfall zu Einzelfall zu entscheiden, ob die Bezeichnung “Behinderung” wirklich gerechtfertigt ist. Die Bezeichnung beispielsweise des Asperger-Syndroms als Krankheit ist aber in jedem Fall falsch.

Nicht von dieser Welt und doch dabei

“Frau B. lebt in ihrer eigenen Welt.” Wenn sie das selbst sagt, dann ist das gut so. Aber man sollte aufpassen, ob dieser Satz wirklich passt. Autisten haben eine andere Wahrnehmung und oft kein Problem damit, alleine zu sein und sich zurückzuziehen. Dennoch leben sie in der selben Welt wie Sie, sonst könnten Sie ja nicht mit ihnen sprechen. Autistische Menschen brauchen aber zur Erholung den Rückzug vor der ständigen Reizüberflutung, sowohl räumlich wie gedanklich. Das ist so, wie in den Urlaub zu fahren. Dann ist man ja auch nicht in einer “anderen Welt”, sondern nur mal nicht erreichbar. Ich selber beschreibe das wie “hinter Glas und doch dabei”, andere haben das Gefühl, von einem “anderen Planeten zu sein” (daher der Begriff “Wrong-Planet-Syndrom”). Wieder andere fühlen sich, als seien sie Ausländer im eigenen Land oder sie sagen: “Irgendwie passe ich nicht in diese Welt”. Das heißt aber nicht, dass autistische Menschen aus einer anderen Welt sind, sondern dass sie sich nur fremd fühlen unter Menschen. So, wie sich Menschen aus der westlichen Welt auf einem indischen Markt fühlen würden, wenn sie noch nie vorher dort waren. Also – lieber genau nachfragen, wie sich das Gegenüber fühlt und beschrieben werden möchte. Und sich nicht scheuen, das Gesagte in eigenen Worten zu wiederholen und nachzufragen, wenn etwas unklar ist.

Stimmungen ja, aber nicht nur melancholisch und düster und vor allem nicht emotionslos

Menschen mit Autismus haben oft, bedingt durch den Stress wegen der Reizüberflutung und dem Anpassungsdruck, Depressionen oder Ängste. Aber nicht nur und nicht alle. Journalistinnen und Journalisten sollten mal auf den Stil der Bilder bei einigen der verlinkten Artikeln am Ende dieser Seite achten. Was für Stimmungen entstehen bei Ihnen? Einsam, traurig, verlassen, verloren, melancholisch, depressiv? Das passt schon, aber das ist doch nicht alles! Verwenden Sie auch schöne, positive, fröhliche, farbige, lustige und alltäglich normale Bilder. Autisten kennen auch diese Seiten im Leben. Verwenden Sie eine passende Bildgestaltung. So wie andere Menschen auch deckt die emotionale Welt von Autisten die gesamte Gefühlspalette ab: Freude, Begeisterung, Wohlwollen. Sie haben lediglich Schwierigkeiten, das, was sie fühlen, nach außen zu transportieren und für andere Menschen sichtbar zu machen. Aber das heißt nicht, dass diese Stimmungen und Gefühle nicht da sind. Gleichzeitig fällt es autistischen Menschen schwer, Gefühle bei anderen Menschen zu erkennen und einzuordnen. Das liegt vor allem in einer fehlenden Wahrnehmung von Gestik und Mimik. Wer autistische Menschen als “kalt”, “gefühlskalt”, “zu Mitleid nicht fähig” oder “blind für die Emotionen anderer Menschen” beschreiben, tut ihnen Unrecht und verletzt sie womöglich. Autistische Menschen können sehr wohl mit anderen Menschen mitfühlen – der emotionale Aspekt erschließt sich ihnen auf der Verstandesebene.

Leidend oder betroffen

Man kann „leidet an“ oder „ist betroffen von“ verwenden, wenn die porträtierte Person das selber sagt und der Text oder Bericht das als direktes oder indirektes Zitat kenntlich macht. Im Artikel “Ohne Zahlen todunglücklich – Diagnose Asperger-Syndrom: Ein Autist gibt Einblicke in seine Gedankenwelt” der Westfälischen Nachrichten vom 06.09.2012 steht: “Jens (17) ist Autist, spricht ohne Scheu aus, dass er am Asperger-Syndrom leidet und schaut seine Gesprächspartnerin dabei offen an.”  Hier ist nicht ersichtlich, ob Jens selbst diese Formulierung genutzt hat. In so einem Fall wäre es direktes Zitat wünschenswert gewesen.

Weder hochbegabt noch ein Genie, aber sehr interessiert

Autismus ist nicht gleich Hochbegabung! Zudem werden Autisten oft als Savants beschrieben, was sachlich falsch ist. Savants sind Menschen mit einer oder mehreren extremen oder außergewöhnlichen Inselbegabungen in einem Gebiet (z. B. Mathematik, Sprachen, Musik). Es gibt weltweit etwa 100 Savants, aber nur die Hälfte davon ist autistisch. Die Hauptfigur Raymond Babbitt im Film “Rain Man” ist einer von diesen fünfzig autistischen Savants. Bei einer Weltbevölkerung von rund sieben Milliarden und einer ASS-Häufigkeit von 1:300 ergibt das gerundete 23 Millionen Menschen mit Autismus weltweit. Davon sind 0,000217% Savants (diese Zahlen wurden vom Blog quergedachtes entnommen ). Menschen mit ASS haben oft Spezialinteressen, häufig auch Inselbegabungen, die aber nicht so ausgeprägt oder extrem sind wie bei den Savants. Was ist der Unterschied? Inselbegabungen sind gegeben und bleiben, Spezialinteressen können sich ändern. Mit denen beschäftigt man sich lange und intensiv und eignet sich bevorzugt  im Selbststudium ein sehr ausführliches und differenziertes Wissen an. Dieses Wissen kann sich theoretisch jeder Mensch beibringen, dazu braucht es keine speziellen Begabungen. Die Beschäftigung mit den Spezialinteressen dient unter anderem der Erholung, z.B. wenn man reizüberflutet ist.  Meine Spezialinteressen sind die angewandte Mathematik und das Programmieren. Die Themenpalette ist dabei breit gefächert.

Längst nicht alle Autisten sind Zahlenmenschen oder Computer-Nerds. Manche beschäftigen sich mit Geschichte, Biologie, Zoologie, mit dem Transportwesen oder bauen große Sammlungen an LKW-Modellen auf. Andere haben große sprachliche Interessen und Vorlieben. Schreiben Sie von diesen Interessen und erwähnen Sie eine Hoch- oder Inselbegabung nur dann, wenn sie auf die porträtierte Person zutrifft. Haben Sie zudem im Blick, dass eine Hochbegabung NICHT mit einer Inselbegabung gleichzusetzen ist. Eine Hochbegabung wird ausschließlich über den IQ-Wert > 130 definiert. Das hat mit der Definition der Inselbegabung nichts zu tun.

Keine Modediagnose, aber die Grenzen zwischen autistisch und nicht autistisch sind fließend

Momentan ist es im Trend, wenn man im Zusammenhang mit dem Asperger-Syndrom von einer “Modediagnose” berichten kann. Das ist verharmlosend und wird den Menschen mit Autismus nicht gerecht.  Das geschieht zum Beispiel in den Artikeln “Eine Diagnose für fast Normale” (Tages-Anzeiger vom 17.02.2012) oder “Wie Autismus zur Modediagnose geworden ist” (“Die Welt” vom 24.07.20111, als Antwort dazu der nicht veröffentlichten Leserbrief von Jörn de Haen, einem anerkannten Fachmann zum Thema ASS).. Denn auch wenn die Personen aus dem autistischen Spektrum gut angepasst sind, so haben sie doch ihre alltäglichen Schwierigkeiten, die Außenstehenden vielleicht gar nicht bewusst sind oder werden. Selbst das Anrufen einer mir gut bekannten Person kann mich einen ganzen Tag blockieren und das Telefonieren selbst erlebe ich als sehr stressig. Die Grenzen zur nicht-autistischen Wahrnehmung sind fließend. Es gibt zum Beispiel Menschen, die autistische Züge haben, für die aber eine Diagnose  aus dem Autismus-Spektrum nicht zur Gänze passt.

Ich danke für das Gegenlesen, Korrigieren und Vorschläge machen:

  • autZeit Blog: autzeit.wordpress.com Twitter: @AutZeit autZeit ist freiberufliche Journalistin und arbeitet vor allem im Printbereich. Sie lebt aktuell im Norden Deutschlands. Das Schreiben und Fotografieren gehört  seit nun bald zwanzig Jahren zu ihrer absoluten Leidenschaft, dabei vergisst sie gerne Raum und Zeit. Sie ist hochfunktionale Autistin. Kontakt ist per Mail möglich.
  • QuerDenkender Blogquergedachtes.wordpress.com Twitter: @QuerDenkender Kontakt ist per Mail möglich. Blogger mit ASS aus Wiesbaden Dr. med. Ronnie Gundelfinger, Leitender Arzt, ZKJPD (Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie), Zürich Dr. med. Thomas Girsberger, Liestal Web: praxiskanonengasse.ch

Quellen

Artikel:

Bücher:

Kinofilme die Autismus als zentrales Thema behandeln:

  • Das Mercury Puzzle (Miko Hughes als Simon Lynch)
  • Das Kartenhaus (Asha Menina als Sally)
  • Rain Man (Dustin Hoffman als Raymond Babbitt)
  • Niemand hört den Schrei (Bradley Pierce als Michael)
  • Snow Cake (Sigourney Weaver als Linda)
  • Les Diables – Kleine Teufel (Adele Haenel als Cloe)
  • Ben X (Greg Timmermans als Ben)
  • Ihr Name ist Sabine (Sabine Bonnaire als Sabine)
  • Dark Floors (Skye Bennett als Sarah)
  • Adam – Eine Geschichte über zwei Fremde. Einer etwas merkwürdiger als der Andere. (Hugh Dancy als Adam)
  • Temple Grandin (Claire Danes als Temple Grandin)
  • My Name Is Khan (Shahrukh Khan als Rizvan Khan)
  • Mary & Max (animierter Film)
  • Der kalte Himmel
  • Der Pferdejunge (Originaltitel: The Horse Boy)
  • Killer Diller (2004)
  • Mein Freund auf vier Pfoten (2006)
  • Miracle Run (2004)
  • Mit dem Licht (Originaltitel: Hikari to Tomo ni, umfasst 11 Episoden und ist die J-Dorama Umsetzung zu dem Manga von Keiko Tobe – With the Light _ Raising an Autistic Child.)
  • Oceans Heaven (Drama mit Jet Li)
  • Der Knabe, der fliegen konnte (1986)
  • Zu viel Liebe – Davids Mutter (1994)
  • Clay Marzo – Just add Water (Ein Film über einen autistischen Surfer)
  • Mozart und der Wal (Originaltitel: Mozart and the Whale)
  • Im Weltraum gibt es keine Gefühle (2011)

(Quelle: Wikipedia.org Kinofilme über Autismus)

Titelbild: “Picture, Wall and Light” John O’Sullivan / Flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

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