Im neuen Kinofilm „Verstehen Sie die Béliers?“ kommt es zum Perspektivwechsel – die Mehrheit der Familie ist gehörlos und Tochter Paula hörend. Dabei wird sich jedoch vieler Klischees bedient, meint Clara Belz, die sich den Film ansah, nachdem sie als gehörlose Frau auch ein Kino fand, das den Film mit Untertiteln zeigte.
Ich habe vorher die Kritik zu dem Film “Verstehen Sie die Béliers?” gelesen, und wollte mir den Film ansehen, um mir eine Meinung zu bilden. Das Problem ist nur: Viele Kinos bieten keine OmUs an, man muss den weiten Weg in Kauf nehmen, wenn man sich einen Kinofilm mit Untertiteln ansehen will. Ich brauche eine Stunde von Zuhause bis zu einem Kino, das OmUs anbietet. In Berlin gibt es nur eine Handvoll Kinos, und meist sind es nur die kleineren, so wie das Kino, wo ich mir „Verstehen Sie die Béliers?“ anschaute…
Assoziation mit dem Film “Jenseits der Stille”
In dem Film geht es um die französische Familie Bélier, in der alle, bis auf Tochter Paula, gehörlos sind. Paula erledigt alltägliche Dinge für die Familie, das Telefonat und das Übersetzen in allen Bereichen, auch bei Arztbesuchen übersetzt sie. Mit der Zeit merkt sie, dass sie damit überfordert ist. Für viele gehörlose Eltern ist es selbstverständlich, dass, wenn ein Kind hören kann, es alles für die Eltern machen sollte. Aber ein Kind soll ein Kind bleiben und nicht den Übersetzer spielen. Es gibt ja auch Gebärdensprachdolmetscher_innen. Der Film erinnert mich stark an „Jenseits der Stille“ (ein Klassiker aus 1993 von Caroline Link), wo die hörende Tochter Lara alles übersetzen sollte, und die Welt der Musik für sich entdeckt, und die Eltern ihr nicht folgen können. Und das erinnert mich stark an den Film, wenn ich mir Paula ansehe, die hörende Tochter der Familie Bélier, die dann statt wie Lara die Klarinette den Chor für sich entdeckte.
Wenn Gebärdensprache, dann richtig
Es ist aber auch schön, dass durch den Film „Verstehen Sie die Béliers?“ die französische Gebärdensprache (LSF) im Kino thematisiert wird, weil sie in der Familie alle benutzen. Ich finde es auch wichtig, dass die Barrieren der Kommunikation aufgezeigt werden. Es gibt heutzutage immer noch Menschen, die nicht wissen, dass die Gebärdensprache eine gesetzlich vollwertige Sprache ist. Sie ist komplex aufgebaut, hat eine eigene Grammatik und man kann sich auch in der Gebärdensprache streiten.
Es fällt nur auf, dass die Hauptdarsteller_innen etwas holprig gebärden, und die Sprache nicht so flüssig ist und ich merkte direkt, dass es keine gehörlosen Schauspielerinnen und Schauspieler sind, bis auf einen. Ich vermute, es gab vor dem Dreh Beratungen, wie dies und das dargestellt wird. Natürlich können Menschen, die keine Behinderung haben, eine Rolle annehmen, in dem sie einen Mensch mit einer Behinderung darstellen sollen. Nur dann mit guter Beratung.
Sich gegenseitig annehmen
Vor allem gut gefallen hat mir die Szene, als der Vater versucht, sich in die Tochter einzufühlen, obwohl es nicht seine Welt ist, und er versucht sich ihrer Welt anzunehmen. Es ist ja oft so, dass Gehörlose versuchen die Welt der mehrheitlich Hörenden anzunehmen. Nur wenn, wie bei der Familie Bélier die Mehrheit gehörlos ist, muss sich Tochter Paula als Hörende anpassen.
Auch das Ende finde ich persönlich gut, wie die Familie Paula gehen lässt, um Paula ihren Traum zu ermöglichen, sie sogar zur Gesangsprüfung begleitet. Und dass die Tochter am Ende während der Aufnahmeprüfung parallel für die Familie in Gebärdensprache singt. Klar, dass es für die Mutter viel Überwindung kostet, dass die Tochter singt, und die Familie es nicht nachvollziehen können, was am Singen so toll sei. Das sei nicht ihre Welt, sagen sie, aber am Ende verstehen sie Paula.
Klischees über Gehörlose: dumm, ignorant und egoistisch
Was mir aber Bauchschmerzen bereitet, ist, dass die Eltern als dumm dargestellt werden, vor allem wenn sie nicht begreifen, was wirklich im Leben von Paula passiert. Da gibt es zum Beispiel eine Szene, in der Paula ihre Blutung bekommt, und der Vater den Freund von Paula bedrängt, weil er denkt, dass er mit ihr geschlafen hätte. Da wird Paula wütend, weil die Eltern so tun, als ob Taubheit alles entschuldigen würde, weil die Familie nicht verstanden hat, was eben passiert ist. Dabei wissen sie es, dass Paula ihre Tage hat.
Es wird alles hochstilisiert, dass das Leben der Familie so schlimm ist, wenn die eigene Tochter hören kann, dabei ist es ja nicht so, dass sich alle gehörlosen Eltern wünschen, dass das Kind gehörlos wäre. Es wirkt auch wie ein indirekter Vorwurf an die Menschen, die nicht hören können, dass sie ihre Kinder als Dolmetscher fungieren lassen. Insbesondere die Szene mit dem Fernsehen hat mich etwas verstört. Hier übersetzt Paula beim Fernsehen für den Vater, der für das Bürgermeisteramt kandidiert. Da braucht es aber eigentlich eine qualifizierte Übersetzung, nicht dass die Antworten falsch übersetzt werden, und so Missverständnisse entstehen. Der Vater merkt, dass Paula überfordert ist mit der Übersetzung, und sagt, dass das Fernsehen jemanden finden sollte, der die Antworten in Gebärdenspache übersetzt. Natürlich gibt es einige, die ihre Kinder übersetzen lassen, aber nicht alle Gehörlosen sind so.. Damit werden Vorurteile geschnürt, dass Hörende sich um vieles kümmern müssten.
Heute gibt’s doch Gebärdensprachdolmetscher_innen
Der Film an sich ist sehenswert, vor allem, weil es ja zur Meinungbildung dient und jeder für sich soll ja entscheiden, ob er oder sie sich den Film ansehen will. Die Handlung erinnert stark an „Jenseits der Stille“, damals war es der erste Film, der die Problematik der Gehörlosen thematisiert hat und der auch noch im Kino lief. Wer es klischeehaft mag, kann sich den Film „Verstehen Sie die Béliers?“ ansehen. Ich finde die Handlung an sich gut, aber es ist etwas holperig umgesetzt, und für den nächsten Film bitte nicht so klischeehaft, mehr realistisch. Da entsteht ein falsches Bild von den Menschen, die eine Hörbeeinträchtigung haben. Früher war es anders, aber die Gesellschaft hat sich gewandelt, vielen ist das bewusst, dass Kinder Kinder bleiben sollen. Heute gibt’s Gebärdensprachdolmetscher_innen.
Weitere Kritiken zu dem Film
- “Verstehen Sie die Béliers?: Dann singt sie eben in Gebärdensprache (Presse.com)
- Goldkehlchen wird flügge (Kölner Stadt-Anzeiger)
3 Antworten
Ich bin Hörender, wohne in Frankreich und habe zudem noch eine Tochter im Alter von Paula. Ich kann überhaupt nicht Ihre Aussage nachvollziehen, dass die gehörlosen Eltern als dumm dargestellt werden. Ganz im Gegenteil: sie werden als ganz normale Eltern dargestellt, die die Herausforderungen ihres Bauernhofes und ihres Marktverkaufs meistern. Das die Gehörlosigkeit keine Rolle spielen sollte, weder in positiver noch in negativer Hinsicht, wird sogar expliziert thematisiert, als der Vater sich entschließt gegen den amtierenden Bürgermeister anzutreten und gewinnt! Genauso normal wirken die Auseinandersetzungen zwischen den Eltern und der heranwachsenden Tochter
Am schlimmsten fand ich die letzte Szene im Film. Da wurde impliziert, dass die Tochter nur gehen konnte, weil jemand (ich glaube, es war die neue Freundin des Sohnes) ihre Rolle auf dem Markt als Dolmetscherin übernimmt. Damit wird impliziert, dass immer jemand zurückstecken muss, damit die Familie weiter „funktioniert“ (arbeiten kann), dass in dem Fall jetzt die neue Freundin des Sohnes diese Rolle der Tochter übernommen hat. Was passiert, wenn der Sohn sich mal von der Freundin trennt? Muss die Tochter dann wieder zurück kommen?
Hier hätte ich es viel besser gefunden, wenn man die Möglichkeit professioneller Dolmetscher aufgezeigt hätte und auch, wie man solche findet und wie sie finanziert werden. Ein Großteil des Filmes implizierte für mich, dass die Tochter vorrangig nicht als Tochter, sondern als Arbeiterin für die Eltern wahrgenommen wird. So nach dem Motto, du kannst kein eigenes Leben anfangen, weil wir dann unsere Lebensgrundlage verlieren. Dass dieser Eindruck nicht korrigiert wurde, sondern am Ende einfach ein Mensch durch einen anderen ersetzt wurde, der kostenlos diese Arbeiten übernimmt, fand ich schlecht.
Klasse übrigens die Kommentare bei youtube unter dem Lied, das im Film gesungen wird. Dort schrieben viele, dass sie sich wünschten, jeder Song würde mit begleitendenden Gebärden aufgeführt (und das kam größtenteils von Hörenden).
Auf den ersten Blick und Eindruck war der Film sehr berührend, tief vereinnahmend und vor allem die befreiende Geschichte und auch die Botschaft der jungen Schauspielerin in der Rolle der Paula ein besonderer Genuss für Augen und Ohren und die Gefühlswelt. Wer von uns sehnt sich nicht danach zu „fliegen“ und da berührt Paula wahrscheinlich uns alle tief im Herzen mit ihrer Entwicklungsreise.
Was mich in dem Film dagegen augenblicklich und auch im tieferen Nachgang sehr gestört hat, war die hektische, zum Teil lieblose und wie ich finde auch übergrifige Atmosphäre zu Hause. Ich teile hier nicht die Meinung Ihres Flyers, dass das alles sehr warm, witzig und charmant war. Vielmehr empfand ich viele Passagen, als vulgär, übergriff g, bis hin zu missbräuchlich…nett und lustig verpackt, ja, aber dennoch moralisch und christlich weder vertretbar, noch wünschenswert. Ein Handicap ist z. B. keine Entschuldigung dafür, ein Frühstück lieblos und achtlos auf Teller zu knallen. Auch finde ich, ist es nicht die Hauptaufgabe von Kindern, zu lernen loszulassen und sich gegen die völlige Vereinahmung ihrer Eltern zu wehren, sondern die Aufgabe guter Eltern, Kindern einen Raum zur Verfügung zu stellen, der sie befähigt, ermächtigt und aktiv unterstützt, ihr Leben in Frieden und Sicherheit zu entfalten und zu gehen, wenn es Zeit ist zu gehen. Die emotionalen Probleme, die das bei Eltern auslösen mag, dürfen nicht an den Kindern ausgelassen oder ihnen zugemutet werden.
Im Falle des Filmes jedoch, drehte sich ganz unabhängig vom Handicap der Eltern und des Bruders fast alles um die vereinnahmende, wenig erwachse Mutter und recht egozentrische Mutter des Mädchens, einem Vater, der seine Handicap mit einem Bürgermeisteramt auf unverschämte Weise kompensieren wollte, der Bruder ging fast völlig unter…und das junge Mädchen trug mit einer stoischen „Gelassenheit“ eine Bürde, die im Grunde genommen viel zu groß und gar nicht ihre Aufgabe als Kind eines Elternhauses war. Auch die Szene beim Frauenarzt war eine Verletzung der Intimsphäre des jungen Mädchens und nicht wirklich lustig. Es darf nicht die Aufgabe eines Kindes sein, in keinem Fall, solche Angelegenheiten für ihre Eltern klären zu müssen. Es ist auch nicht witzig, wenn die persönliche Intimsphäre des Mädchens in Bezug auf ihre erste Monatsblutung so zur Schau gestellt wird. Hier herrschte Chaos, Lieblosigkeit und mangelnder Respekt vor der Würde und dem Schutz des ganz Persönlichen und oft waren die Rollen vertauscht. Das Mädchen trug elterliche, ermahnende Verantwortung für ihre Eltern und das ist eine Verdrehung die ungesund und nicht in Ordnung ist.
Wenn der Film insgesamt auch sehr unterhaltsam war, gebe ich ihm aus den oben genannten Gründen nicht das Prädikat „Besonders wertvoll“….wenn Freiheit sehr stark auf Kosten von vorher auch zu erduldendem Übergriff als „Weg“ vorgestellt wird, ohne auch die tatsächlichen Probleme, ganz unabhängig von Handicap oder auch nicht innerhalb der Familie anzusprechen, im Gegenteil, sie zu bagatellisieren und verwitzelnd, ja dann stimmt etwas nicht. Dass dann die Eltern zur Einsicht kamen und losließen haben sie der Liebe, dem Mut und der Kraft dieses jungen Menschen zu verdanken, aber noch mal, ist das wirklich die Aufgabe von Kindern oder sollte es nicht besser anderes herum sein!?