Der Goldene Bär der Berlinale ging an “Touch Me Not” von Adina Pintilie (Rumänien). Die Kritik in den Medien zur Preisvergabe ist gespalten, aber vor allem negativ. Wir geben eine Übersicht.
Mit der Auszeichnung als Bester Film (Goldener Bär) der Berlinale für “Touch Me Not” von Adina Pintilie, ist wiederholt ein Film ausgezeichnet worden, in dem das Thema Behinderung eine tragende Rolle spielte. 2017 war es der ungarische Film “Körper & Seele”, in dem eine autistische Frau und ein gelähmter Mann sich verlieben. Auch der Große Preis der Jury (Silberner Bär) ging mit “Twarz” von Ma?gorzata Szumowska (Polen) an einen Film, der die Behinderung durch ein entstelltes Gesicht thematisiert. Nun also “Touch Me Not”. Die Medien kritisieren vor allem den Umgang mit der Thematik im Film, sowohl methodisch als auch die Zumutung für das Publikum.
Tagesspiegel – Preise an Frauen und keine Bloßstellung:
Sieben von zwölf Goldenen und Silbernen Bären gehen in diesem Jahr an Frauen, eine echte Premiere. Mit dem Goldenen Bär für Adina Pintilie wird außerdem zum zweiten Mal in Folge eine Frau mit dem Hauptpreis gewürdigt. Letztes Jahr gewann Ildikó Enyedi aus Ungarn für “Körper und Seele”. Adina Pintilie ist damit die fünfte Regisseurin in der Geschichte der Internationalen Filmfestspiele Berlin, die einen Goldenen Bären gewinnt. Damit ist die Berlinale Frauenquoten-Siegerin vor Cannes und Venedig. (…) Ihr dokumentarischer Filmessay lotet die Möglichkeiten und Grenzen der Intimität aus, zeigt unter anderem Schwerstbehinderte, Menschen in einem Swingerclub, Transsexuelle, einen Sextherapeuten. Alle Figuren geben sich Blößen, ohne dass der Film sie bloßstellt oder gar vorführt.
Die Welt – Schamgefühl und Laborversuch:
Es ist der Film, aus dem bei seinen Festivalaufführungen die Zuschauer in Scharen herausliefen, weil er sie an allen möglichen wunden Stellen traf: an ihrem Schamgefühl, der anerzogenen Norm für Schön-/Hässlichkeit – und der Erwartung eines konsumierbaren Kinoabends. „Touch me not“ ist zugleich Dokumentar- und Experimentalfilm sowie Kunstobjekt, eine Art Seminar über Zärtlichkeit, Beziehungen und Körperblockaden. Zum ersten Mal hat kein klassischer Kinofilm die Berlinale gewonnen, sondern ein Laborversuch.
Welt (Kommentar 2) – Therapiesprech und Pseudoerkenntnisse:
Das Enervierende an „Touch Me Not“ ist nicht das Austesten von Schamgrenzen und die Sezierung von Intimität. Was einen rasend machen kann, sind der permanente Therapiesprech, Blasen wie „Feiere deine Sexualität“ sowie diese Pseudoerkenntnisse über die Natur von Intimität, die Pintilie mithilfe von Schauspielern (Laura Benson) und Laien (Christian Bayerlein, Betreiber des Blogs „Kissability“) erarbeitet.
Neue Zürcher Zeitung – Zweifelhafte Methodik und Zurschaustellung behinderter Menschen:
Adina Pintilies Film «Touch Me Not» ist das Resultat ihres jahrelangen Forschungsprojektes, wobei die Wissenschaftlichkeit und Methodik durchaus zweifelhaft sind. Berührungen, Nacktheit, Masturbation und Gespräche über (sexuelle) Identität stehen im Zentrum des Films, der Tabus herausfordern möchte. Die Szenenfolge ist erratisch, und grosse Teile des Publikums mochten sich dieser Zurschaustellung auch behinderter Protagonisten nicht aussetzen.
Zeit.de – Mehr Behinderung im Kino ja, verdienter Preisträger nein:
Die junge rumänische Filmemacherin Adina Pintilie befragt darin Menschen von unterschiedlicher körperlicher und seelischer Beeinträchtigung nach ihrem Sexualleben. Es ist erstaunlich und extrem berührend, wie die Darstellerinnen und Darsteller ihr davon erzählen, von ihrem Selbstverständnis, ihren Ängste und Sehnsüchten. Natürlich ist das Sujet mutig und bemerkenswert, weil im Kino Bilder von körperlich beeinträchtigten Menschen leider immer noch ungewöhnlich sind – schockierend sind sie keineswegs. So ganz vertraute die Filmemacherin ihrem Setting dann allerdings doch nicht, denn sie flicht einen zarten Plot ein und inszeniert ihre Protagonisten und Protagonistinnen in einer künstlichen, ganz in Weiß gehaltenen Welt. Das ist schade. Aber mehr als verzeihlich, denn Touch me not ist Pintilies erster Film. Sie erhielt dafür noch vor der Vergabe der Bären einen hochdotierten Preis für den besten Erstling. Die kleine dreiköpfige Jury dieses Preises urteilte zu Recht: es ist ein wichtiger und wagemutiger Film. Aber ein verdienter Preisträger für den Goldenen Bären? Wohl eher nicht.
BILD – Schamgrenzen niedergerissen:
Ein Besuch im Sado-Maso-Club, masturbierende Callboys, Transfrauen, männliche Dominas – und auch behinderte Menschen sind mit dabei, wenn exzessiv verschiedene Sexpraktiken ausprobiert werden. Ein Tabu-Film, sagen einige. Gedacht, um Schamgrenzen abzubauen, sagt die Regisseurin. Problem: Im Film wird sich nicht behutsam an Schamgrenzen herangetastet, sie werden regelrecht niedergerissen. Viele Kritiker hielten in der ersten Vorführung den exzessiven Sex daher für unerträglich. Sie gingen.
FAZ – Manipulation und Ermüdung:
Ich fühlte mich manipuliert, und dass dort Grenzen von Intimität verhandelt wurden, dass es um eine Frau um die Fünfzig geht und um einen Mann, der einen Körper ähnlich dem von Stephen Hawking hat und ein erfülltes Sexleben, von dem er gern und stolz berichtet – ich wollte das alles nicht wissen. Weil ich daran festhalten wollte, im Kino zu sein, nicht in einem Therapiezentrum. In einem Spielfilm, keiner Dokumentation. Ich erkannte nicht, was erzählt wurde. Mich ermüdete das unbewegte Gesicht der Hauptdarstellerin Laura Benson, mich ermüdeten die Typen, die vorgeführt wurden wie in einem Panoptikum, ein origineller österreichischer Transvestit, ein britischer SM-Experte, Dicke in Darkrooms. Die Jury sah das anders und gab dem Film den Goldenen Bären.
Süddeutsche Zeitung – Erst gnadenloses Opfer, dann sogar ein Vorbild:
Die Kamera nähert sich also, in gnadenlos scharfer Digitalauflösung, dem Protagonisten Christian. Dessen Körper ist durch eine spinale Muskelatrophie zu einem winzigen Bündel nutzloser Gliedmaßen geschrumpft. Speichel läuft ihm aus dem Mund, den er nicht schließen kann. Drei sehr steile, angefaulte Zähne ragen heraus. Sein Workshop-Partner spricht für die meisten Betrachter, als er über seine Gefühle reden soll: Er kann kaum hinsehen – und die Aufgabe, dieses Gesicht zu berühren, löst starke Fluchtreflexe in ihm aus. (…) Das kleine Wunder, dass darin passiert, kann man wieder sehr gut mit dem schwerstbehinderten Christian erklären. Denn sobald man sich ein wenig daran gewöhnt hat, wie entstellt sein Körper und Gesicht sind, bemerkt man vor allem seine hellwachen, schönen blauen Augen – und beginnt ihm zuzuhören. (,,,) Und auf einmal wirkt er nicht nur wie ein ganz normaler Mann, sondern wie ein Vorbild sexueller Befreiung: Man sieht in splitternackt auf einem Divan in einem SM-Club thronend, von den Kurven seiner Frau umflossen, ein König unter Gleichgesinnten, in seinem Reich. Das letzte Bild, das der Film von ihm schafft, hat den ersten, abstoßenden Eindruck vollkommen ausgelöscht. Und ein Film, dem das gelingt, der ein paar Synapsen im Hirn seiner Zuschauer komplett neu verdrahtet – hat der nicht jeden Bären verdient?
Deutsche Welle – Ästhetisch stark, zu puristisch, zukunftsweisend:
Viele werden sagen, dass die Berlinale – bekannt dafür ihren sozialpolitischen Anstrich über die kinematographisch hohen Ansprüche zu stellen – mal wieder eine Entscheidung im Sinne der political correctness getroffen hat. Ich glaube jedoch nicht, dass es der Jury darum ging. Natürlich ist es ein starkes Statement inmitten der MeToo-Debatte einen Film wie “Touch Me Not” auszuzeichnen. Aber es ist außerdem ein ästhetisch starkes Werk mit einem experimentellen Erzählangebot, das mich von Anfang an genauso überzeugt hat wie die Jury. Der Film war zwar nicht mein Favorit: Um ein “liebenswerter” Film zu sein, ist er zu puristisch und verkopft – eigentlich komisch für einen Film in dem es hauptsächlich um den Körper und körperliche Intimität geht. Aber es war auch der Film, über den ich am meisten mit anderen diskutiert habe. Und darum ging es der Filmemacherin in erster Linie, sagte Pintilie als sie ihre Auszeichnung entgegen nahm: um Dialog. Die Entscheidung der Jury war mutig und zukunftsweisend, auch wenn sie nicht den Applaus der Kritiker bekommen mag. Den Besuch dieses kunstvollen Kinofilms sollte sich jeder erwachsene Zuschauer zutrauen.