Tapfer und mutig trotzen sie ihrem Schicksal – wenn es um Menschen mit Behinderung in den Medien geht, werden viele bedeutungsschwere Worte gebraucht. Wir haben die häufigsten Floskeln versammelt und erklären, was betroffene Menschen darüber denken.
„Tapfer und mutig meistern sie ihr Leben“…
Zum „schweren Schicksal“ gehört fast automatisch das Überwinden, Bewältigen oder „Meistern“ der Behinderung. Gerne auch auf „tapfere“, „mutige“ oder „bewundernswerte“ Weise. Ein „normales Leben“ mit Behinderung ist für viele unvorstellbar – und kommt es doch vor, gleicht es einem „Wunder“.
Das starke Mädchen hat eine lange Leidensgeschichte hinter sich. Seit ihrer Geburt leidet es an Spina bifida, einer Fehlbildung der Wirbelsäule, die Leonie an einen Rollstuhl bindet. Seit vier Jahren hilft die Musik von Helene Fischer ihr durch schwere Zeiten. Die Schlager-Queen war beeindruckt “wie tapfer Leonie ihr Schicksal meistert”.
InTouch, 30.06.2017
Alternative: Für viele Menschen ist die Behinderung Teil ihres Lebens, den sie akzeptieren und als bloße Frage der Organisation verstehen – ganz ohne Tapferkeit.
Lebensfreude und Lebensmut
Bewunderung und Lob für Alltägliches – viele behinderte Menschen kennen das und wundern sich darüber. Dass sie einkaufen, arbeiten, abends ins Kino oder in den Club gehen ist für sie völlig normal, für andere aber kaum zu glauben. Heldenhaft müssen diejenigen wohl sein, die „trotzdem“ rausgehen, ihr Leben genießen, lachen und nicht traurig zuhause sitzen. Ihnen wird gerne „Lebensfreude“ oder „Lebensmut“ bescheinigt.
Kleiner Mann ganz groß. Trotz angeborenen Handicaps sprüht der 27-Jährige vor Lebensfreude und will nun eine Trainerausbildung absolvieren.
Märkische Allgemeine, 18.07.2017
Alternative: Behinderte Menschen wollen mit der Normalität ihres Lebens gesehen und nicht bewundert oder glorifiziert werden.
Trotz der Behinderung
„Trotz seiner Behinderung hat er einen Job bekommen“. „Trotz ihrer Krankheit lebt sie ein ganz normales Leben“. Behinderung ist in den Augen vieler etwas, das immer im Weg steht, das vom Leben abhält, passiv und abhängig macht. Behinderung können sich viele nur als Negativ-Faktor im Leben vorstellen, nicht als etwas Positives.
Lebensmut trotz Amputation: Wie diese Mutter ohne Hände und Füße ihr Leben meistert
stern.de, 19. April 2017
Alternative: Dass behinderte Menschen Dinge nicht trotz oder wegen, sondern mit ihrer Behinderung tun, sollte sprachlich selbstverständlich werden.
Jemand leidet an etwas
„Marie-Luise Pfaue leidet an Muskelschwund“ – „leidet an“ ist eine Standardformulierung in fast jedem Text über behinderte Menschen. Und so leicht sie aus der Feder fließt, so falsch ist doch die darin enthaltene Unterstellung. Ob Pfaue wirklich an ihrer Krankheit „leidet“ kann nur sie wissen – doch das wird stillschweigend vorausgesetzt. Pfaue hat mal gute, mal schlechte Laune, ist mal glücklich oder unglücklich, wie alle anderen Menschen auch.
Die 24-Jährige leidet an Muskelschwund. (…) Trotzdem hat sie Kraft, um zu studieren.
Spiegel Online, 23.02.2017
Alternative: Dass ihnen ihre Behinderung dauerndes, konstantes Leiden bringen würde, bestreiten die meisten behinderten Menschen. Marie-Lusie hat oder lebt mit einer Muskelkrankheit – solche Formulierungen kommen der Realität deutlich näher.
An den Rollstuhl gefesselt
Auch wenn die Vorstellung, Rollstuhlfahrende seien „gefesselt“, absurd scheint – dieser Ausdruck ist immer noch nicht aus der Welt. Und mit ihm lebt ein Bild von Passivität, Ohnmacht und Hilflosigkeit weiter. Das macht auch die abgeschwächte Form „an den Rollstuhl gebunden“ nicht besser. Dabei befinden sich Rollstuhlfahrer*innen gar nicht permanent im Rollstuhl, sitzen zum Beispiel auch mal auf dem Sofa oder laufen (!) auf Krücken. Der Rollstuhl bedeutet für viele genau das Gegenteil von „Gefesselt-Sein“: Er ermöglicht Bewegungsfreiheit und Teilhabe.
Stephen Hawking, der berühmteste Physiker unserer Zeit. Bewegungslos, an den Rollstuhl gefesselt durch eine unheilbare Krankheit. Verständigen kann er sich nur durch die synthetische Stimme eines Sprachcomputers.
Deutschlandfunk, 08.01.2017
Alternative: Statt gefesselt zu sein „nutzen“, „benutzen“ oder brauchen Rollstuhlfahrende einen Rollstuhl, „sitzen“ in ihm, sind „auf ihn angewiesen“ oder sind einfach mit ihm „unterwegs“. Falls ihr doch mal einen Menschen treffen solltet, der an einen Rollstuhl gefesselt ist – bindet ihn sofort los!
Du statt Sie
Menschen mit Behinderung über 18 sind volljährig. Auch wenn sie Lernschwierigkeiten haben oder kleinwüchsig sind – Erwachsensein bedeutet, Respekt erwarten zu können und ein Gespräch auf Augenhöhe. Dennoch streicheln ihnen manche Menschen über den Kopf oder sprechen nur mit ihren nichtbehinderten Begleitpersonen. Dass sie gesiezt und mit dem Nachnamen angesprochen werden ist nicht selbstverständlich – sollte es aber sein.
“Glückskind trotz Down-Syndrom”.
Alternative: Gleichberechtigung braucht Ernstnehmen, Achtung und auch ein „Sie“ – und das fordern behinderte Menschen zunehmend ein.
Was behinderte Menschen alles nicht können…
Behinderung ist, wenn jemand etwas nicht kann – so denken viele. Und konzentrieren sich auf die vermeintlichen Defizite: „Schleppender Gang“, „ein Blick, der ins Leere geht“ oder die „spastisch verkrampften Hände“. Das Bild des „schweren Lebens“ voller Entbehrungen soll Mitleid wecken. Was oft fehlt sind die Fähigkeiten behinderter Menschen und der Blick auf das, was sie können. Das jedoch scheint vielen Schreibern keine Geschichte zu sein – da fehlen Drama und Sensation
Alternative: Konzentriert euch nicht nur auf die Defizite sondern vor allem auch auf das, was behinderte Menschen können – wahrscheinlich ist das mehr, als ihr denkt.
Positive Beispiele aus den Medien findet ihr hier.
Exkurs: Traumatisierte Menschen
Gisela Mayer und Andreas Unger haben mit dem Buch “Begegnung mit dem Leid” einen Leitfaden entwickelt, wie Journalist*innen mit Menschen sprechen, die stark traumatisiert wurden. In dem Buch antworten Expert*innen auf die Frage, wie berichtet werden soll. Die Aussagen dienen einem gemeinsamen Ziel: Wege der Recherche und der Berichterstattung zu zeigen, die fair gegenüber Protagonist*innen sind und zu besserem Journalismus führen.
Den kostenlosen Download als pdf und e-Book findet ihr hier.