Das Thema Schwangerschaftsabbruch – erst Recht im Kontext einer möglichen Behinderung oder Krankheit des ungeborenen Kindes – ist tabuisiert. Dass der Plot eines Kinofilms nun darauf basiert, ist selbst 2016 noch ein mutiges Novum. Auf der diesjährigen Berlinale feierte „24 Wochen“ von Anne Zohra Berrached, der einzige deutsche Wettbewerbsfilm, seine Premiere. Mareice Kaiser hat ihn sich angesehen.

Auf den letzten Drücker erreiche ich noch einen der wenigen freien Plätze im bereits abgedunkelten Kinosaal. „Gerade noch geschafft“, flüstert es freundlich von meiner linken Seite. Ich lächle den fremden jungen Mann neben mir an, er hat das Down-Syndrom, dann beginnt schon der Film. Als Mutter einer behinderten Tochter habe ich Respekt vor den folgenden anderthalb Stunden, in dem es um den Spät-Abbruch einer Schwangerschaft mit einem behinderten Kind gehen wird. Neben einem Mann mit Down-Syndrom sitzend, noch mehr.

Das Paar Astrid und Markus, gespielt von Julia Jentsch und Bjarne Mädel, erwartet zum zweiten Mal Nachwuchs. Die Diagnose Down-Syndrom schmälert die Freude nur anfänglich. Beide möchten das Kind bekommen und bereiten zusammen mit der neunjährigen Schwester alles für die Ankunft des Geschwisterkindes vor. Das Paar setzt sich damit auseinander mit einem behinderten Kind zu leben und kann der Skepsis von Familie und Freunden schon nach kurzer Zeit ihre hoffnungsvolle Vorfreude entgegensetzen. In der 24. Schwangerschaftswoche kommt allerdings eine weitere Diagnose hinzu: ein schwerer Herzfehler, so dass mehrere Operationen kurz nach der Geburt anstünden, eine Mehrfachbehinderung wird prognostiziert. Während Markus an der Entscheidung für sein Kind nicht zweifelt, wird Astrid unsicher.

Welches Leben ist lebenswert?

Die Regisseurin Anne Zohra Berrached zeigt das Ringen der Eltern aus nächster Nähe und sehr nah an der Realität. Sie zeigt aber nicht, wie das Leben mit solch einem Kind auch aussehen könnte – nämlich nach all den Operationen ebenso lebenswert wie von ihr auch nach der Diagnose Down-Syndrom angenommen. Als einziges Bild vom Leben mit Behinderung nehmen die ZuschauerInnen den Eindruck einer inklusiven Theatergruppe mit, die das Paar besucht. Ansonsten bleibt die Vorstellung vom Leben mit einem behinderten, herzkranken Kind vor allem medizinisch. „Belastung und Freude im Wechsel“, prophezeit ein Arzt dem Paar und ein anderer fügt hinzu: „aber immer ein herzkrankes Kind, um das man sich kümmern muss.“ Eine Sicherheit gebe es nicht, erklärt einer der Ärzte, der auch im echten beruflichen Leben solche Gespräche führt. Das komplette medizinische Personal in „24 Wochen“ besteht aus Laiendarstellern, die Dialoge sind dadurch sehr real. Auch die beiden HauptdarstellerInnen spielen nicht immer strikt nach Drehbuch, sondern improvisieren teilweise. So kommt es dann auch, dass bei großen Emotionen – wie im Arztzimmer – alle durcheinander sprechen. Das ist sehr nah am echten Leben.

Der Film zeigt das Fragengewitter, das über das Paar hereinbricht, und sucht Antworten, die doch aber niemand pauschal geben kann. Welches Leben ist lebenswert? Und wer entscheidet darüber? Was darf eigentlich gesagt werden und was nicht? Etwa hier, als Markus erzählt: „Als Kind hab ich manchmal mit nem Downie gespielt” und Astrid fragt: „Downie – darf man das überhaupt sagen?”. Markus: „Klar, ich glaube, Mongo darf man nicht mehr sagen.” Beide lachen. „Ich glaube, wir Eltern dürfen alles sagen.” Der Begriff „Downie“ wird übrigens von einigen Menschen mit Down-Syndrom abgelehnt.

Einsame Entscheidung, zitternde Nähe

„24 Wochen“ nimmt die ZuschauerInnen mit auf die Suche nach Antworten, die es vielleicht gar nicht gibt. Als Astrid sich für eine Spätabtreibung entscheidet, sucht sie bei der betreuenden Hebamme nach erlösenden Worten. „So eine Entscheidung kann man nur treffen, wenn man sie treffen muss.“ Astrids Entscheidung müssen die ZuschauerInnen von „24 Wochen“ mittragen. In zwei Kameraeinstellungen sucht sie den Blickkontakt mit den ZuschauerInnen, die damit ohne Worte gefragt werden: „Was würdest du tun?“ Wir sind sehr nah dran am Spätabbruch, wenn die Kaliumchloridspritze das Herz des ungeborenen Babys stehenbleiben lässt. Die Menschen im Kinosaal begleiten Astrid – außer, sie verlassen die Filmvorführung, wie bei der Pressevorführung passierte. Berrached stellt eine Nähe zum Publikum her, dass es fast nicht möglich ist, sich ihr zu entziehen. Es ist kaum zu ertragen, die Frau rechts neben mir kann nicht hinschauen. Was dabei im Publikum geschieht, beschreibt Dietmar Dath in seinem Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als „Seelenzittern“.

Bei ZEIT Online stellt Wenke Humann fest, dass sich die Frauenrollen in den allermeisten Berlinale-Filmen und auch in „24 Wochen“ souverän bewegen, „während die Männer um sie herum noch mit Begreifen beschäftigt sind“. Während Astrid und Markus versuchen, alles gemeinsam zu entscheiden, kommt Astrid letztendlich zu dem Schluss, dass nur sie selbst die Entscheidung für oder gegen das Kind treffen kann. „Das ist genau das Thema des Films: wie allein die Frau mit ihrer Entscheidung am Ende ist“ schreibt Wenke Humann.

Screenshot: Cult-zeitung.de

Screenshot: Cult-zeitung.de

Zwischen Selbstbestimmung und Gewissen

„Genau das ist das moralische Dilemma, das ich zeigen wollte“, erklärt Regisseurin Berrached im Interview. Annette Walter beschreibt das im MISSY Magazine als „existenzielle Frage, die der Film so verhandelt, dass keine eindeutige Lösung angeboten wird“. Genau das ist es, was die ZuschauerInnen beschäftigt: Die Frage, wie sie selbst entscheiden würden in dieser Situation. Ein Dilemma, in das uns auch der medizinische Fortschritt geführt hat, wie die Regisseurin im Interview erklärt: „Das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper haben die Frauen vor uns hart erkämpft. Ein hohes Gut. Aber zusammen mit den neuen medizinischen Errungenschaften kann dieser Fortschritt uns auch vor unwägbar erscheinende Entscheidungen stellen.“

Am Ende des Films herrscht minutenlange Stille im Kinosaal, dann: Applaus. „Guter Film”, meint der Mann links neben mir. „Traurig”, entgegne ich. „Ja, aber genau so ist es ja”, sagt er. Stimmt, denke ich. Nur, dass es den Herzfehler oft gar nicht braucht als Grund für einen Schwangerschaftsabbruch. Das Down-Syndrom – im Film eine Herausforderung, die zunächst von den Eltern angenommen wird – genügt sonst schon für die Statistik: Neun von zehn Frauen entscheiden sich bei der Diagnose Down-Syndrom für einen Schwangerschaftsabbruch. „Darüber wird aber nicht gesprochen”, erklärt Berrached in einem Interview und damit auch die Intention ihres Films: „Das ist für mich Grund genug, darüber zu sprechen.” Dieser Film kann einen großen Teil dazu beitragen, sollte er in vielen Kinos laufen und von vielen Menschen gesehen und besprochen werden. Ich wünsche mir das.