Warum „Handicap“ das falsche Wort für Behinderung ist

Menschen mit und ohne BEhinderung prosten sich zu.
Der Schlüssel zur sensiblen Sprache: gemeinsamer Austausch. Foto: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de

Immer häufiger wird das Wort „Handicap“ benutzt, um den Begriff der „Behinderung“ zu vermeiden. Warum dies aber der falsche Weg ist und warum die häufig genannte Begründung dafür auch nicht stimmt, erklärt Jonas Karpa.

Die Begriffe für behinderte Menschen haben in vielen Sprachen eine negative Konnotation. Sei es „Les Invalides“ (vom lateinischen Wort „invalidus“ für krank, hinfällig, kraftlos) in Frankreich, oder „Las personas con minusvalias“ (Personen mit niedrigem Wert) in Spanien. Auch in Deutschland sprach man lange Zeit von den Behinderten oder gar von Schwerbeschädigten. Immer häufiger ist inzwischen ein anderes Wort für Menschen mit Behinderung zu lesen: Handicap oder gehandicapt. Es klingt jung, hip, frisch und versprüht einen Hauch von Internationalität. Aber vor allem: es trägt nicht dieses sperrige Wort „Behinderung“ bei sich.

Hand in Cap vs. Cap in Hand

Trotzdem wird die Beschreibung, dass ein Mensch „gehandicappt“ sei, oft kritisiert. Handicap würde Bezug auf Obdachlose und Bettler*innen nehmen, die am Straßenrand sitzen, ihre Mütze in der Hand halten und nach Geld fragen. Dafür gibt es den englischen Ausdruck Cap in Hand. Diese Begründung hält sich hartnäckig, ist aber falsch. 

Tatsächlich taucht der Begriff Cap in Hand erstmals 1565 auf und beschrieb die Geste, aus Respekt, Achtung oder Höflichkeit den Hut zu ziehen. Diese Bedeutung entwickelte sich über die Jahre hin bis 1887, wo sie beschrieb, jemanden um einen Gefallen zu bitten. Dieses Bitten, oder gar Betteln, was Cap in Hand bedeutet, ist aber ein völlig anderer Wortstamm als das Hand in Cap

Menschen mit und ohne Behinderung in Sporttrikots stehen schulter an schulter zusammen.
"Handicap" ist ein häufig in Sport benutzter Begriff, der eher defizitorientiert ist. Foto: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de
Die erste Erwähnung von Hand in Cap findet man im Jahr 1653. Hier beschreibt Hand-in-cap ein Lotterie-Spiel mit zwei Spieler*innen und eine*r Schiedsrichter*in. Grundlegende Spielidee war, dass die beiden Spieler*innen Gegenstände tauschen, von deren Wertigkeit sich die Schiedsrichter*innen vorher ein Bild machten. Die Spieler*innen mit dem weniger wertigen Objekt mussten den Differenzbetrag noch dazulegen. Vor jeder Spielrunde gaben alle drei Personen den gleichen Geldbetrag als sogenanntes Reuegeld in einen Topf ab. Ob nun ein Tausch zustande kam, entschied sich, indem beide Spieler*innen eine Hand in eine Kappe steckten und gleichzeitig, entweder als Faust oder geöffnete Hand, wieder herauszogen. Eine geöffnete Hand bedeutete in diesem Fall die Zustimmung zum Tauschhandel, eine Faust die Ablehnung des Geschäfts. Dieses „Hand in Kappe (stecken)“ ist die Grundlage des Namens Hand-in-Cap, der später in Hand i’Cap verkürzt wurde. Treffen nun beide die gleiche Entscheidung, so wird der Handel entweder vollzogen oder nicht. Das gesammelte Reuegeld bekommt in beiden Fällen der/die Schiedsrichter*in. Stimmt nur einer der beiden Spieler*innen zu, so kommt kein Tausch zustande, jedoch bekommt der/die zustimmende Spieler*in das Reuegeld. 

Sportlicher Wettkampf – Handicap als fairer Ausgleich 

Der Ausgleich zwischen zwei ungleichen Teilnehmer*innen – oder wie bei Hand-in-Cap von Gegenständen – spiegelt sich auch 1754 wieder, als der Begriff im Pferderennen auftaucht. Das beste Pferd musste extra Gewichte tragen, um Chancengleichheit gegenüber den Schwächeren herzustellen. 1883 ging das Wort Handicap dann vom rein sportlichen Kontext auch in den allgemeinen Sprachgebrauch über. Es steht seitdem für die Gleichstellung zweier Personen mit unterschiedlichem Ausgangslevel.

Handicap erst 1915 Synonym für Behinderung 

Erst 1915 wurde Handicap mit Behinderung in Verbindung gebracht. Zunächst wurden nur Kinder mit einer körperlichen Behinderung als handicapped bezeichnet, ehe der Begriff in den 1950er Jahren auch für Erwachsene und Menschen mit Lernschwierigkeiten galt.

Heute ist Handicap als fester Bestandteil der Alternativ-Begriffe für Behinderung und in der Welt des Sports zu finden. Dort wird er am häufigsten beim Golf verwendet. Es besagt die Differenz zwischen den benötigten Schlägen und der Anzahl der Schläge, die ein*e sehr gute*r Spieler*in zum Beenden des Platzes benötigt. Handicap bezeichnet also die Spielstärke, die Qualität eine*r Golfspieler*in. Je höher das Handicap, desto schlechter.

Wenn der Begriff Handicap nun aber ursprünglich für das Lotterie-Spiel benutzt wird, warum wird trotzdem die vermeintliche Verbindung zu Bettler*innen genannt, wenn der Begriff kritisiert wird? Es wird vermutet, dass diese Begründung dafür, das Wort nicht zu benutzen, genommen wird, weil sie für viele Menschen leicht verständlich ist und man nicht noch großartig die Geschichte des Wortes Handicap erläutern muss. Mit einer Behinderung zu leben ist für Nichtbetroffene schon schwer vorstellbar, da möchte man diese „armen Menschen“ ja nicht auch noch mit Bettler*innen vergleichen. Das scheint für viele plausibel und niemand möchte darüber diskutieren. 

Wer ein Handicap hat, hat ein Defizit

Aber was ist nun der wirkliche Grund, warum Handicap das falsche Wort für Behinderung ist? Handicap beschreibt die Situation aus einer defizitorientierten Sicht. Natürlich steckt im Begriff Behinderung auch, dass ein Mensch an etwas gehindert ist bzw. wird, jedoch enthält er auch das soziale Modell von Behinderung. Dieses besagt, dass eine Person nicht nur behindert ist, sondern auch durch die Umwelt behindert wird. Sei es durch Vorurteile, Stufen oder fehlende Untertitel. Bei Handicap steht, wie es auch im ursprünglichen Lotterie-Spiel der Fall war, der Vergleich im Vordergrund. Es wird erst auf den*die Beste*n geschaut – in diesem Fall der Mensch ohne Behinderung – und dann verglichen, was der*die vermeintlich Schwächere (also der Mensch mit Behinderung) nicht kann. Der individuelle und persönliche Blick auf jede*n einzelnen geht damit verloren.

Da viele Menschen aber befürchten, allein mit dem Wort Behinderung zu beleidigen oder zu stigmatisieren, hat sich Handicap als Begriff etabliert. Gerne werden auch beschönigende Alternativ-Ausdrücke, wie z.B. „besondere Bedürfnisse“ oder „andersfähig“ gewählt. Ganz abgesehen davon, dass nur wenige behinderte Menschen selbst diese Ausdrücke gebrauchen, treffen sie auch nicht zu. Die Fähigkeiten und Bedürfnisse behinderter Menschen sind nicht „besonders“, sondern genauso vielfältig wie die nicht behinderter Menschen. Und sie haben nicht “besondere Bedürfnisse”, sondern das Recht, nicht benachteiligt zu werden. 

Warum nicht einfach „Mensch mit Behinderung“ oder “behinderter Mensch”?

Würde man 50 Personen auf der Straße nach einem sensiblen Begriff für Menschen mit Behinderung fragen, so würde man womöglich 50 verschiedene Antworten bekommen. Behindert und Behinderung sind ziemlich in Verruf geraten. Nicht zuletzt dadurch, dass „bist du behindert?!“ als beleidigende Phrase im Umlauf ist.

Zu Unrecht, wie Betroffene finden, denn Behinderung beschreibt letztendlich ein Merkmal von vielen einer Person. Wichtig ist nur, dass das Wort “Mensch” mitbenutzt wird, da mit dem Begriff Behinderte das Bild einer festen Gruppe entsteht, die in Wirklichkeit vielfältig ist. „Der/die Behinderte“ würde die Person auf ein Merkmal reduzieren, das alle anderen Eigenschaften dominiert. Bei Handicap verschwindet der Mensch vollkommen und der Fokus wird auf eine (vermeintliche) Schwäche gelegt. Die Auswahl des Begriffes hat dabei nichts mit der Frage nach politischer Korrektheit zu tun – zumal politische Korrektheit inzwischen als politischer Kampfbegriff missbraucht wird. Vielmehr geht es um Sensibilität und der Auseinandersetzung mit Sprache. Aussagen wie „ich habe das schon immer so gesagt“ oder „mir gefällt der Begriff aber so sehr“ sind dabei nicht förderlich und von oben herab. Die beste Lösung sind daher die Formulierungen „Menschen mit Behinderung“ oder „behinderte Menschen“. Das Gegenüber nach der für sie*ihn passenden Begrifflichkeit einfach zu fragen, gilt natürlich auch nach wie vor. 

Das waren starke Zeilen? Dann gerne teilen!

4 Antworten

  1. Ich finde, man sollte in einem Wort für uns nicht unser Defizit betonen. Eher das Gegenteil! Uns müsste man Powerhuman nennen. Denn unser Alltag erfordert erheblich mehr Power, Disziplin und Durchaltevermögen. Ein nicht behinderter Mensch würde mit dieser Power steile Karriere machen. Wir benötigen sie zur Bewältigung des normalen Alltags. Das sieht kaum jemand, wenn von Behinderung gesprochen wird!

  2. Als blinde Mutter musste ich stets mehr Power an den Tag legen, um meinen sehenden Kindern ein „normales“ Leben zu ermöglichen. Dazu das ständige Ankämpfen gegen diejenigen, die in mir die „Defizitärmummy“ gesehen haben. Das prägt einen. Heute blicke ich auf 2 selbstbewußte, erwachsene Kinder zurück. Zeit ein bisschen stolz auf mich zu sein.